Jean-Philippe Rameaus Oper „Platée” am Opernhaus
Durch eine enge und fruchtbare Zusammenarbeit von Regisseurin und musikalischer Leiterin entsteht auf der Zürcher Opernbühne aus einem gewagten Stück Satire am französischen Hof der Barockzeit ein erfreulich zeitgemäßes und aktuelles Stück als Spiegel ach so menschlicher Emotionen.
Von Matthias Wießner
Die Beziehung zwischen dem französischen König Ludwig XV. und Jean-Philippe Rameau, einem der führenden Komponisten des Landes war komplex und vielschichtig. Ludwig XV. war ein großer Musikliebhaber und schätzte die Künste, einschließlich der Musik. Im Jahr der Premiere von „Platée“ 1745 verlieh ihm der König gar den Titel als Hofkomponist, verbunden mit einer Pensionszahlung.
Unterhaltungsblock in einer höfischen Festivität
Die Aufführung von Rameaus Ballet-bouffon „Platée“, einer Oper in einem Prolog und drei Akten mit umfangreichen Balletten bildete am 31. März 1745 in Versailles den Abschluss der Festivitäten zur Hochzeit des ältesten Königssohns mit der zeitgenössisch als wenig attraktiv geschilderten neunzehnjährigen, spanischen Infantin Maria Teresa Rafaela. Die Eheschließung besiegelte nach einem langjährigen Krieg den vereinbarten Frieden zwischen Frankreich und dem habsburgischen Spanien. Es handelte sich nicht um eine offizielle Festaufführung, sondern gleichsam um ein Satyrspiel, eine Möglichkeit für ein befreiendes Lachen nach zahlreichen ernsten offiziellen Hochzeitszeremonien.
Rameau schuf mit seiner ersten komischen Oper über die Liebe der einfältigen und hässlichen Sumpfnymphe Platée zum Göttervater Jupiter eine Mythentravestie der besonderen Art. Ein in der mythologischen Fantasiewelt der Götter angesiedeltes Libretto war seit dem 17. Jh. auf der Opernbühne zumeist Sinnbild der höfischen Gesellschaft der zentralistischen Monarchien. Die im Stück behandelte Intrige um die Sumpfnymphe Platée, Jupiter, seine Gattin Juno und die ränkevollen Götter ist eine Geschichte um Eitelkeit, Gefallsucht, Ränkespiele, Selbstverliebtheit und Schadenfreude, ein Schelm, der das mit dem höfischen Leben in Versailles in Verbindung bringt. Durch eine Mischung aus humorvollen Dialogen und oft besonders bildhaften musikalischen Darbietungen gelingt es Rameau, seine satirische Botschaft zu vermitteln.
Handlungsort: ein Mehrspartentheater
Jetske Mijnssen verlegt die Opern-Handlung vom mythischen Lebensraum der Götter und der Sumpfnymphe in das quirlige und facettenreiche Treiben eines bereits leicht verschlissenen Mehrspartentheaters (Bühnenbild Ben Baur) zwischen Proben und Aufführung. So oszilliert die Inszenierung in der Darstellung des Theaterspiels und der Realität der Opernhandlung. Theater als Imaginationsraum, der jedoch in schmerzlicher Weise die Härte und Unbarmherzigkeit der Realität spiegelt.
Wir sehen deshalb Platée nicht als eine ihrem und von Fröschen und Kröten bevölkerten sumpfigen Zuhause aufsteigende Nymphe, sondern als Souffleur und Theater-Faktotum, der aus dem muschelförmigen Souffleurkasten in der Mitte der Bühne herauskrabbelt und sich stellenweise unbeholfen und wenig selbstsicher zwischen probenden Tänzerinnen und Tänzern bewegt, ja in einer späteren Szene sogar im Tutu mit denen das Tanztraining absolviert.
Komplott gegen nervige Göttermutter
Etwas abseits vom Theater-Probenbetrieb verbünden sich Thespis (Alasdair Kent), antiker Begründer des Dramas und der Tragödie, die Muse des Theaters, Thalie (Anna El-Khashem) und Momus (Theo Hoffman), Gott des Spotts und der Häme, um Juno, der Gattin Jupiters wegen ihrer unheilbaren und alle nervenden Eifersucht eine Lektion zu erteilen. Merkur (Nathan Haller) berichtet dem Berggott Cithéron (Renato Dolcini) von solch einem tosenden Sturm der Eifersucht Junos. Der zudem auf der Bühne erscheinende Amor (Tania Lorenzo) betont, dass er im geplanten Liebes-Täuschungsmanöver selbstverständlich nicht fehlen dürfe. Alle zusammen beschließen, eine neue Art von Schauspiel zu erfinden, das die Schwächen der Götter im Olymp offenbart und die Menschen von ihrer Unvollkommenheit heilt.
Als Opfer oder Mittel zum Zweck haben sie sich die hässliche Sumpfnymphe Platée auserwählt, die überzeugt ist, dass alle, die in die Nähe ihres Teichs kommen, unsterblich in sie verliebt sind. Jupiter soll dieser einen Heiratsantrag machen; Juno soll die fingierte Hochzeit beobachten und angesichts der Hässlichkeit Platées erkennen, dass ihre ständigen Eifersüchteleien unbegründet sind.
Merkur verkündet daraufhin Platée, dass Jupiter bald aus dem Himmel herabsteigen wird, um ihr aufgrund ihrer Schönheit seine Liebe zu erklären. Beflügelt von der (behaupteten) Zuneigung Jupiters, glaubt sich Platée gar zu einer Karriere als Solotänzer berufen. Von diesen Höhenflügen lässt sie sich nicht einmal von La Folie „der Wahnsinn“, die sie noch vor Jupiter warnt, abbringen. Mary Bevan wundervoll in ihrer Rolle als böse, Kette rauchende Chefchoreografin mit Künstlernamen La Folie.
Die Hochzeitsgäste des so ungleichen Paares aus Jupiter und Souffleur alias Platée treffen ein und Platée wartet ganz ungeduldig auf den besiegelnden Liebesbeweis von Jupiter. Die inszenierte Hochzeitszeremonie beginnt und Momus bringt als Amor verkleidet Geschenke. Juno, mit starker Bühnenpräsenz gesungen von der französischen Mezzosopranistin Katia Ledoux, unterwegs mit ihrem Zwillings-Kinderwagen zu den Hochzeitsfeierlichkeiten, tobt stimmgewaltig bereits vor Eifersucht. Als Juno kurz nach ihrer Ankunft den Brautschleier des Bräutigams lüftet und ihre Hässlichkeit sieht, erkennt sie ihre unnötige Eifersucht. Für Platée, konfrontiert mit Häme und Spott der Anwesenden, endet der glückliche Moment jäh. Sie wird aus dem (falschen) Spiel in die Realität katapultiert tobt hilflos und droht mit Rache und Tod.
Entschwinden bei Rameau die Götter zurück in den Olymp und Platée versinkt beschämt im Teich, offeriert die Zürcher Inszenierung eine weniger bittere Alternative mit offenem Ende. Jupiter bereits von der Bühne abgehend wendet sich noch einmal um und somit Platée zu. Vielleicht zögert er doch in sein altes Leben zurückzugehen und sinnt über ein Zusammensein mit einem Mann nach.
Häßliche Nymphe – ein strahlend männlicher Tenor
Rameau besetzt die weibliche Titelpartie singende männliche Stimme nicht, wie in der italienischen Barockoper üblich, mit einer Kastratenstimme, sondern mit einem Tenor der Stimmlage Haute-Contre. Der französische Tenor Mathias Vidal brillierte in eben dieser Stimmlage in der Rolle der Platée, spielt in der Zürcher Inszenierung jedoch einen Mann. Er zeigte mit seiner wohlklingenden und schlank- eleganten Stimme nicht nur vokale Meisterschaft, sondern verkörperte den liebessehnsüchtigen Souffleur kongenial, changierend zwischen selbstbewusstem Underdog und naivem und unbeholfenem Möchtegern. Seine stimmliche Wendigkeit, sehr gute Textverständlichkeit und emotionale Bandbreite harmonierten perfekt mit der musikalischen Vielfalt, mit der Rameau diese Rolle als Komponist ausstattete.
Ausgewogene Sängerbesetzung
Der Rolle des Gottes Jupiter bzw. Startänzers auf der Bühne, die Würde, Macht und Überlegenheit verkörpert, wurde der Bass-Bariton Evan Hughes dank seiner großen Statur, beeindruckenden Bühnenpräsenz und resonanten Bassstimme bestens gerecht.
Die Personenführung ist dynamisch und permanent bestrebt, sowohl die Solisten als auch den wiederum hervorragend klingenden Zürcher Opernchor (Choreinstudierung: Janko Kastelic) in ständiger Bewegung zu halten, so dass diese mit den Tänzerinnen und Tänzern verschmelzen und somit die Ballett-Szenen (Choreografie von Kinsun Chan) eng mit den Handlungsszenen der Oper verwoben sind.
Sensible orchestrale Gestaltung
Emmanuelle Haïm, die am Pult des hauseigenen Barockorchesters Orchestra La Scintilla stand, zeigte eine bemerkenswerte Sensibilität für Rameaus musikalische Nuancen. Unter ihrer Leitung entfalteten sich die französischen Barockklänge in ihrer ganzen Pracht. Bekannt für seine Spezialisierung auf historische Aufführungspraxis, begeisterte das Spiel des Orchesters im dynamischen Wechsel der Klangfarben und Tempi durch die Präzision der Streicher und die klare Artikulation der Holzbläser, denen Rameau in dieser Oper eine besondere Aufgabe für eine bildhafte Ausdrucksweise aufgetragen hat. Deutlich wird dies bei den Flöten, die das Geschehen oft mit spöttischen Untertönen kommentieren oder insbesondere auch bei den Oboen, die facettenreich das Quaken der Frösche im Sumpf imitieren.
Starrheit bei Königshof und Theaterbetrieb
Die Zürcher Inszenierung zeigt eindrucksvoll, dass weder die Götter im Olymp noch der französische Hof ein historisches Vorrecht auf soziale Grausamkeiten hatten. Platées unverzeihlicher Fehler besteht darin, dass sie sich in der Starrheit, der historisch festgefügten sozialen und gesellschaftlichen Ordnung täuscht. Indem sie annimmt, ja zu glauben wagt, dass der König der Götter sich in sie verlieben könnte, missachtet Platée eine Verhaltensregel, eine Bedingung für die Stabilität der aristokratischen Welt – die Einhaltung einer klaren Hierarchie. Die (vermeintlich festgefügte) Ordnung des Himmels, des Hofes oder des Theaterbetriebes wird durch Platées Verlangen für kurze Momente gestört und aufgebrochen und letztlich durch das Zutun aller wieder hergestellt.
Die Zürcher „Platée“ zeigt mal wieder exemplarisch, dass die Barockoper mit einer schlüssigen, zeitgenössischen Inszenierung und engagierten musikalischen Interpretation etliche, noch heute für uns interessante und aktuelle Aspekte herausarbeiten kann, um die alten Meisterwerke neu zu beleben und sie für ein heutiges Publikum zugänglich zu machen.
Annoation
„Platée”. Ballet bouffon in einem Prolog und drei Akten von Jean-Philippe Rameau; Libretto von Adrien-Joseph Le Valois d’Orville und Balot de Sovot nach einem Stück von Jacques Autreau. Opernhaus Zürich. Musikalische Leitung: Emmanuelle Haïm, Inszenierung: Jetske Mijnssen, Bühnenbild: Ben Baur, Kostüme: Hannah Clark, Lichtgestaltung: Bernd Purkrabek, Choreografie: Kinsun Chan, Choreinstudierung: Janko Kastelic, Dramaturgie: Kathrin Brunner
Besetzung. Platée: Mathias Vidal, Jupiter: Evan Hughes, Junon: Katia Ledoux, Satyre/Cithéron: Renato Dolcini, Thespis: Alasdair Kent, Mercure: Nathan Haller, La Folie: Mary Bevan, Momus: Theo Hoffman, Clarine/Thalie: Anna El-Khashem, Amour: Tania Lorenzo, TänzerInnen: Federica Porleri, Sina Friedli, Juliette Rahon, Valentina Rodenghi, Dustin Eliot, Steven Forster, Valerio Porleri, Roberto Tallarigo
Orchestra La Scintilla, Chor der Oper Zürich, Statistenverein am Opernhaus Zürich
Premiere 10.12.2023, besuchte Vorstellung 30.12.2023, veröffentlicht 24.02.2024
Credits
Text: Matthias Wießner, Freier Theaterkritiker, Leipzig
Foto (6): Toni Suter