Jelineks und Schuberts Winterreise – Winterreise nicht ganz verdoppelt.
Trotz des Titels „Winterreise / Winterreise“ und gleich dreier Musikdesigner verschwindet Schuberts Musik gegen Ende fast ganz aus der vierten Produktion von Stücktexten der österreichischen Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek in der Intendanz von Enrico Lübbe. Das dauerte am Beginn der Spielzeit des Schauspiels Leipzig mit dem Motto „Gefühlte Wirklichkeit“ über zwei Stunden.
von Roland H Dippel
Es ist ein Topos des originären (Kunst-)Lieds, dass Gefühl und Wirklichkeit nur selten zusammenpassen.Und wenn das in der digitalen zweiten Wirklichkeit ab und an möglich sein sollte, dräuen andere negative Apokalypsen als Schuberts bleierne Resignation am Ende seines Liederzyklus „Winterreise“. Auf dem Spielzeitmotto „Gefühlte Wirklichkeiten“ lässt sich also mit trefflichen Assoziationen aufbauen, zumal die Pandemie derzeit zu fast sekündlich changierenden Gefühlen und Wirklichkeitstheorien herausfordert.
Mit drei ihr wesentlichen Themen treibt, seziert, metamorphosiert und ernüchtert Jelinek in ihrem 2011 entstandenen Text den für die Musikgeschichte so wichtigen Gedichtzyklus des Dessauers Wilhelm Müller. Kurz nach Müllers frühem Tod hatte Franz Schubert dessen „Winterreise“ in Wien vertont und verstarb 1828 nur wenig älter als Müller ebenfalls in seinen frühen Dreißigern. In den zehn Jahren zwischen Entstehung und heute hat Elfriede Jelineks Text noch mehr Relevanz entwickelt, zumal in den pandemisch reduzierten Zellen kaum noch jemand ohne einen individuellen Mix sozialer Medien im Alltag auskommt. Das will Etienne Pluss mit Projektionen von Menschen im Schnee, Bianca Deigner mit Figuren unter ergrauenden Herrenlocken und drallen Retro-Dirndln hinterfragen.
Wer Schubert singt, passt nur schwer in die gegenwärtige Welt. So ist es eine Gruppe intellektueller und skurriler Nerds, die sich auf der mit (Kunst-)Schnee gefüllten und beeindruckend unauffällig von diesem mehrfach entleerten Spielfläche durch die Parallelen des Wiener Weltverdrusses aus Vormärz und Gegenwart schlagen. Plucis denkt die Holzvertäfelung des Zuschauerraums weiter auf die Bühne. Das Publikum spendete am Ende bewegten, kaum enthusiastischen Beispiel. Besonders reich bedacht wurde Ellen Hellwig für einen Monolog, der Winterreise der von ihr verkörperten Figur in einem unaufhaltsamen Alterungsprozess enden lässt. Alles rhetorische Aufbäumen und die vom Ensemble ohne Rollenbezeichnungen beteuerten Wehr- und Wehemanöver gegen den Fluss der Zeit erweisen sich als sinnlos. Auch Müllers Wanderer treibt es immer weiter, Schuberts Vertonungen bremsen dagegen genial bei hier gestrichenen Doppelsonnen und wunderlichen Krähen im Hintergrund. Jelineks Denken über das Verweilen der Zeit, ob diese schön ist oder nicht, erhält bei dieser Premiere am Freitagabend (noch) kein allzu profundes Gewicht. Die Themen Trennung und Fremdheit, das Vagieren und Errichten einer unüberwindbaren Barriere zur Welt reihen sich zum Krisenbewusstsein ohne allzu intensives Farbspiel der Textbehandlung. Für Enrico Lübbes hat*s im Winter Schnee und Jörg Kienberger fällt beim „Lindenbaum“ als Kontrapunkt „Hurra die Gams“ des österreichischen Volksrockers Matty Valentino ein. So geht poetische Polarisierung.
Erstaunlich hellsichtig war Jelinek vor knapp zehn Jahren, als sie gegen die vervielfachten Rollen Einzelner in den sozialen Netzwerken wetterte, es allerdings bei dieser Kritik beließ und diese nicht in ein gnadenlos seziertes Beziehungsgefüge wie in ihren früheren Romanen „Lust“ und „Die Klavierspielerin“ hineintrieb. Lübbe löst Jelineks essayistische Erbosungen, die eher sprachliche Illustration als dramatische Eruption sind, in schöne und dabei plakative Bewegungsfolgen auf. Zu Verlegenheitslösungen griff der Regie führende Hausherr vor allem im Mittelteil, wenn Jelinek aus Textflächen Theater zu machen gewillt war.
Die musikalischen Mittel dazu sind so auserlesen, dass man den geringen Schubert-Anteil nur bedauern kann. Ganz zu Anfang erklingt Schuberts „Leiermann“ von einem Zymbal – schmerzlich schön. In der ersten Hälfte folgten wenige von Franziska Kuba und Philip Frischkorn mit dem bemerkenswert sicheren Ensemble abgründig klar einstudierte Liedsätze. Eine eigenes kleines Strophenmelodram setzt Jelinek in die boomende kommunikative Wachstumsgesellschaft mit ihren inflationären Schnäppchen- und Schnupperangeboten gestylter Menschenprofile.
Nachdenkliche Momente gibt es an diesem Abend. Aber genau getroffen sind weder die entschäfte Jelinek noch jene Weite, die bei Schubert und Müller entsteht, desto mehr sich deren poetischem Ich die nihilistische Schlinge um den Hals zwängt. Ensemble und Produktionsteam scheinen sich darauf verständigt zu haben, auf gründlichere Metaphern-Recherche und Suche nach den Abgründen hinter Jelineks Sprachvariationen zu verzichten. Manchmal spürt man die Sehnsucht der Mitwirkenden nach Christoph Marthalers „Die schöne Müllerin“ am Schauspielhaus Zürich anno 2002. Am Schauspiel Leipzig aber fehlte doch etwas von der damals bezwingenden und mit großer Musikalität durchgezogenen Respektlosigkeit. Jelineks Texte sind keineswegs so eingleißig, dass „Winterreise“ nur die geradlinige Exkursion vom Winter in die auch für die digitalen Globalplayer unausweichliche geriatrische Einsamkeit wäre.
Immerhin ist das Centraltheater jetzt eine Corona-Komfortzone. Von den 400 möglichen Sitzplätzen wurden 300 verkauft. Und es bestand das Angebot, vor Beginn den Rang zu öffnen, um drangvolle Nähe im Parkett zu lichten.Aber alle wollten dieses Gemeinschaftsgefühl und den von Jelinek erwähnten Geruch der großen Menschenherde.
Annotation:
Schauspiel Leipzig, Große Bühne. „Winterreise /Winterreise“ von Wilhelm Müller und Franz Schubert / Elfriede Jelinek. Regie Enrico Lübbe, Bühne Etienne Plussm Kostüme Bianca Deigner, Musikalische Leitung Jürg Kienberger, Korrepetition und Bühnenmusik Franziska Kuba, Philip Frischkorn, Dramaturgie Torsten Buß, Licht Ralf Riechert. Besetzung: Julius Forster, Ellen Hellwig, Franziska Hiller, Jürg Kienberger, Tilo Krügel, Denis Petković, Jule Roßberg, Miloslav Prusak, Julia Berke
Was noch?
Die nächsten Vorstellungen: Sa 03.10., 19:30 Uhr; Sa 24.10.,19:30 Uhr; So 25.10., 19:30 Uhr. Karten: Fon 0341 12 68 168, E-Mail: besucherservice@schauspiel-leipzig.de
Ein Ausnahmefall: Sie lesen im Blog eine weitere Rezension zu diesem Stück hier: https://www.ktmagazin.de/die-romantik-nach-ischgl/
Credits:
besuchte Vorstellung: 25.09. veröffentlicht: 27.09.2020
Foto: © Rolf Arnold