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Leipzig: Vorsicht! Der Russe schießt

Leipzig: Vorsicht! Der Russe schießt

Unverwüstlich gegenwärtig – die MuKo lässt „Die Fledermaus“ fliegen und saufen

Trinke, Liebchen, trinke schnell,
trinken macht die Augen hell.
Sind die schönen Auglein klar,
siehst du alles licht und wahr.

Unsre Omas sind bei den Melodien dahingeschmolzen, sie kannten Hit um Hit aus der ollen Silvester- und Karnevalskammele „Die Fledermaus“ und sangen voller Inbrunst mit. Wobei eigentlich niemand (außer den schmissigen Melodien) den Hype ums Werk so recht erklären kann und konnte. Diese Operette führt nämlich Gestalten vor, die nicht nachvollziehbar handeln: Eheleute erkennen sich maskiert nicht wieder. Beamte öffnen die Gefängnistore. Russenprinz Orlowski lässt die gehobene Gesellschaft tanzen und schießt fröhlich in die Menge. Ein überforderter Frosch redet Quatsch und mutiert damit zum Liebling der Nation. Und warum heißt das Stück Musikgeschichte überhaupt „Die Fledermaus“, die da untot alle Jahre wieder aufersteht?

Ganz in Raum und Faschingszeit ließ Leipzigs Musikalische Komödie den Flughund los und beweist: „Die Fledermaus“ kann auch nach 150 Jahren ihrer Existenz erstaunlich jugendfrisch flattern. Die Ouvertüre erklärt multimedial die Vorgeschichte der „Rache einer Fledermaus“ – so der ursprüngliche Operetten-Titel.  Die Vorgeschichte zum Werk spart das Programmheft leider aus und schreibt auf dem Frontispiz, das Libretto hätte sich Richard Genée erdacht und vergisst, den Co-Autoren Karl Haffner zu erwähnen. In unserer zitatekritischen Gesellschaft ein dramaturgischer Fauxpas. Drunter schreibt man: Der Text fuße auf der Komödie „Le Réveillon“ (1872) von Henri Meilhac und Ludovic Halévy. Das ist richtig. Doch auch diese besaß eine Vorkomödie: ein „Lustspiel in 4 Aufzügen“ namens „Das Gefängniß“ (1851). Diese Nichterwähnung missfällt doppelt, denn man übergeht den Gründervater der Geschichte. Und noch mehr missfällt: Man verschweigt, dass „Gefängniß“-Autor Roderich Bendix 1811 in Leipzig geboren ist! Überall und weltweit verweist man stolz auf die Herkunft von Berühmten, und wie für Leipzig eben typisch wird hiesiger Helden wie Ernst Anschütz, Paul Schreber oder Moritz Lazarus (wir nennen nur drei der Aberhundert!) nicht gedacht.

Diese kritische Anmerkung sei vom Leipziger Rezensenten vorangestellt, allem andern huldigt er ergeben: „Die Majestät wird anerkannt, anerkannt, anerkannt!“ Regisseur Peter Lund verkopft weder das gute Stück noch zertrümmert er es. Das farbenfrohe Bühnenbild von Ulrike Reinhard verzichtet auf alle erwartbaren Schnörkel der guten alten Operettenzeit. In den Kostümen von Daria Kornyscheva meint man manch andere Person wiederzuerkennen: Montserrat Caballé, die Conheads, Oberschwester Mildred Ratched, Margaret Atwtwoods Handmaid, Falladas (zeitweise auch Leipziger!) kleinen Mann oder Bulgakows Margarita. Und scheint die absurde Geschichte ihren beschaulichen Fortgang zu nehmen, wird sie vom Gefängniswärter Frosch pointiert süffisant in derzeitige Diskussionen geholt. Wahrlich: „Eine Operette kann man nicht gendern!“ Das Orchester unter Tobias Engeli zeigt sich in musischer Höchstforrm Da sitzt jeder Klingelton! Zum wiederwiederholten Male gelingt es dem zur leichten Muse verdammten Haus, die leichte Muse ernst zu nehmen, was anderen kommunale Spieltruppen mit woker Attitude immer wieder vergeigen. Theaterhäuser sind keine Erziehungsanstalten! Wir Publikum keine amorphe Masse, die in eine Zeitform gepresst werden muss! Auch deswegen tosender Applaus.

Der nicht enden wollende Beifall gilt aber ganz zu recht den Künstlern, die allesamt die blöde Fledermaus-Rachegeschichte so übertrieben ernst nehmen, dass Humor entsteht, ohne zu denunzieren. Billige Schenkelklopfer bleiben außen vor. Thomas Pigor, der auch hier gefeierte Kabarett-Chansonier, gibt mit einem auf den Punkt gebrachten Liede dem Stücke gegenwärtige Relevanz, die der Regisseur zu nutzen weiß, um derzeitiges hysterisches Gebaren in Hörsälen, Kommentaren und Filmen als das zu entlarven, was es ist: eine Welle, die Werte zerstört und keine neuen etabliert, eine Hatz, die Personen in den Tod treibt und andere Meinungen im Namen der Toleranz verbietet. Er gibt damit dem Theater das, was es ist: Unterhaltungskunst – Betonung auf Kunst.

Jeffrey Krueger brilliert als nasgeführter Gabriel von Eisenstein. Olena Tokar verleiht der betrügenden und betrogenen Rosalinde haftende Stimme. Michael Raschle verschwindet unterm weiten Beamtenmantel, um dann gesanglich wie artistisch Prämissen zu setzen. Nora Steuerwald als Prinz Orlowsky zeigt, wie man mit Geldmacht alle Puppen tanzen lässt. Ivo Kovrigar hält die Fäden der Intrige zusammen. Adam Sanchez lässt die Hosen runter. Mirjam Neururer trägt eine hohe Frisur und einen blauen Pelz und wird in Zukunft einen Karrieresponsor haben. Halldóra Ósk Helgadottir hat diesen bereits gefunden. Und Thomas Pigor macht den Frosch zu dem, was er ist, ein Märchenprinz der die Geschichte wandelt. Samt Chor ist dies eine Kollektivleistung hoher Güte und Schule und nebenbei ist Peter Lunds Inszenierung ein gelebtes Stück Toleranz, denn auf der Bühne finden viele Nationen ohne Krawall zu gemeinsamen Wohlklang. 

Wer mir beim Trinken nicht pariert,

Sich zieret wie ein Tropf,

Dem werfe ich ganz ungeniert

Die Flasche an den Kopf!

Wir empfehlen „Die Fledermaus“ allen!

(Auch denen, die sie schon zu kennen glauben.)

Henner Kotte

Annotation

“Die Fledermaus”, Operette in drei Akten von Johann Strauss, Libretto von Richard Genée, nach der Komödie »Le Réveillon« von Henri Meilhac und Ludovic Halévy , Musikalische Komödie Leipzig

Musikalische Leitung Tobias Engeli / Eric Staiger, Inszenierung Peter Lund, Bühne Ulrike Reinhard, Kostüme Daria Kornysheva, Choreinstudierung Mathias Drechsler, Chor der Musikalischen Komödie, Zusatzchor, Extrachor, Komparserie der Oper Leipzig, Orchester der Musikalischen Komödie

Besetzung

Rosalinde. Friederike Meinke / Olena Tokar, Adele: Olivia Delauré / Mirjam Neururer, Ida Halldóra Ósk Helgadóttir, Gabriel von Eisenstein: Franz Xaver Schlecht / Jeffery Krueger, Alfred: Adam Sanchez / Sven Hjörleifsson, Prinz Orlofsky: Nora Steuerwald, Frank: Michael Raschle, Dr. Falke: Ivo Kovrigar, Dr. Blind: Andreas Rainer, Frosch: Thomas Pigor

Premiere und besuchte Vorstellung 10.2.2024, veröffentlicht 12.2.2024, überarbeitet 19.2.2024

Credits

Text: Henner Kotte, freier Theaterkritiker und Autor, Leipzig

Fotos (2): C. Zinna

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