Musiktheaterprojekt „Undine“ von Anna-Sophie Mahler am Leipziger Schauspiel uraufgeführt.
Nach „La Bohème“ (2021) verhandelt Anna-Sophie Mahler in „Undine“ zum zweiten Mal am Schauspiel Leipzig eine brennende gesellschaftliche Zeitfrage. Die Accessoires der großen Opernrobe sind besentfalls ahnbar. Das Ergebnis ist ein atmenrauender Abend. Es geht um die Apocalypse – now.
Von Moritz Jähnig
Alles beginnt ganz harmlos. Ein paar Mitwirkende stehen plaudernd um den Flügel herum, der unten vor der Bühne im Parkett steht. Das Publikum nimmt Platz und schaut erwartungsvoll auf den noch runtergelassenen Eisernen Vorhang. Allmählich wird es ruhig im Saal. Sonja Isemer begibt sich von der Gesprächsgruppe weg auf die noch schmale Bühne hinauf und ist – Undine. Sie begrüßt das Publikum. „Liebe Wasserfreunde!“ und schon verwandelt sich das Publikum verzaubert in die Teilnehmer eines, sagen wir mal, Lehrgangs. Nicht ohne Sympathie beobachtet es seine Referentin, die businessmäßig im Hosenanzug engagiert vorträgt, was jedermann über das Wasser an sich und die Leipziger Gewässer im besonderen wissen muss.
Damit es auch der Ignoranteste kapieren muss, entwirft die mehr und mehr aufgedrehte Volkshochschullehrerin mit Kreide instruktive, lustige Tafelbilder auf dem Eisernen. Warum ist es für unser Überleben zwingend ntwendig, den Leipziger Auwald wieder zu fluten? Was steht einer solchen Renaturierung entgegen? Geradezu genüsslich breitet Isemer die absurden Zusammenhänge unseres Lebens aus und schildert deren Folgen. Weil wir uns nicht zu einigen vermögen, stirbt der Frosch. Warum tut das Ungeheuer Mensch nichts?
Allmählich formt sich die rein sachbezogene Darlegung zum Leipziger Ökosystem zu einer global gemeinten Anklage. Immer ungehaltener agiert und argumentiert Undine dabei. Den Zuhörern wird langsam ungemütlich. Akustisch eine bedrohliche Atmosphäre. Irgendetwas brummt. Es dröhnt unterschwellig im Zuschauerraum. Schließlich lässt Undine Isemer alle Freundlichkeit fallen. Die noch verhaltene, aber anwachsende Wut der Nymphe tritt körperlich in ihrem Spiel hervor. Gleichzeit peitscht Michael Wilhelmi am Flügel mit Ravel die Spannung auf. Der gefragte Theatermusiker hatte bereits 2020 bei „Eriopis“, Mahlers erster Regiearbeit in Leipzig, mitgewirkt.
Nächster Schritt zur allgemeinen Verunsicherung: der Eiserne Vorhang hebt sich und wir tauchen ein in Undines Unterwasserreich (Bühne und Kostüme Katrin Connan). Nebelschwaden quellen in den Zuschauraum. Die Töne ziehen ins Unfassbare. Klang fasst an. Auf der Bühne im Gewaber und vor einer Bildahnung aus dem Leipziger Neuseenland steht ein riesiger Industrieautomat aus der Generation Industrie 4.0. Er leuchtet das Publikum mit einem grellen Scheinwerfer an und ab. Er spielt und tanzt, beherrscht die Szene. Die Interpretation vom Lied an den Mond aus Antonín Dvořáks „Rusalka“ durch ein Industrie-Ungeheuer ohne jedwede androide Anmutung ist zweifellos neben der außergewöhnlichen Leistung der in dieser Spielzeit vom Neuen Theater Halle nach Leipzig gekommenen Darstellerin Sonja Isemer der stärkste Moment dieser wichtigen Inszenierung Anna-Sophie Mahlers. Programmierung und Steuerung des Roboters Jens Erdmann, Richard Kühne, Carsten Rüger; System-Automation Zimmer S.A.Z GmbH aus Limbach-Oberfrohna, einem sächsischen Mittelständler, mit führend auch im Sektor Mensch-Roboter-Kollaboration.
Bestenfalls bereichert, unbedingt aber höchst verstört, verlässt das Publikum nach 90 Minuten und nach langanhaltendem Applaus sein Theater. Es hat mit der nüchtern als Musiktheaterprojekt annoncierte Aufführung eine romantische Zauberoper reinsten Wassers erlebt (pardon, für diesen Kalauer). Absolut zeitgemäßes Musiktheater. Romantik ist nichts anders, als die Fortsetzung einer Geschichte mit anderen Mitteln: Wenn sachliche Argumente versagen, kommt das Märchen. Vielleicht erkennt mensch das angerichtete Unheil dann endlich. – Vielleicht.
Ob wir Menschen diesen maschinenbehausten Tümpeln ohne Frosch überhaupt je wieder entsteigen können? Das bleibt unerörtert. Anna-Sophie Mahler, hier total Ingeborg-Bachmann-Genossin, beschreibt und beklagt die Lage. Und nun? „Glotzt nicht so romantisch!“ um hier vielleicht in Ermangelung einer eigenen Antwort auch noch Brecht anzubringen.
Anna-Sophie Mahler bereitet gegenwärtig an der Bayerischen Staatsoper eine Inszenierung von „Thomas“ und „Lamento d’Arianna“ (Georg Friedrich Haas / Claudio Monteverdi) vor. Ein Grund, am 23., 25., 27. oder 29.5.22 nach München zu pilgern.
ANNOTATION
„Undine“. Ein Musiktheaterprojekt von Anna-Sophie Mahler. Uraufführung. Schauspielhaus
Leipzig. Große Bühne. Regie /Text- und Konzept: Anna-Sophie Mahler, Text- und
Konzept: Kathrin Veser, Bühne und Kostüm: Katrin Connan, Musikalische Leitung:
Michael Wilhelmi, Dramaturgie: Benjamin Große.
Besetzung: Sonja Isemer, Klavier Michael Wilhelmi, ChorLina Bischoffberger, lsabel Cramer, Michaela Günold, Lea Heinzel, Claudia Heusel, Merle Hillmer, Anna Hirschmann, Isabel Kalis, Katharina Konrad, Maike Lambert, Almuth Kreutz, Klaudia Löffler, Linda Menzer, Amalie Rex, Gabriela Roth-Budig, Nadine Schumann, Linda Straumer, Ulrike Wünschirs, Ulrike Weirauch, Katharina Unger (Vocalconsort Leipzig)
Premiere: 26. 03. 2022, besuchte Vorstellung 31. 03. 2022, veröffentlicht 01. 04. 2022, aktualisiert 14.04.2022
weitere Vorstellungen: 08.05., 21.05., 29.05., 02.06., 11.06., 13.07.
WAS NOCH?
Auwaldüberflutung in Leipzig
CREDITS
Foto (2): © Rolf Arnold/Schauspiel Leipzig
Text: Moritz Jähnig, Theater- und Musikkritiker, Leipzig, Herausgeber (ViSdP) dieses Blogs