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euro-scene: Tour de parforce

euro-scene: Tour de parforce

Eröffnung mit ONE SONG – HISTOIRE(S) DU THÉÂTRE IV von Miet Warlop, Belgien

Vorab gab es im Schauspiel Leipzig die protokollarische Eröffnung der 33. euro-scene durch den Schirmherrn, Oberbürgermeister Burghard Jung, auf der in diesem Jahr 15 Produktionen begrüßt werden, darunter eine Uraufführung und sechs deutsche Erstaufführungen sowie zwei internationale Koprodultionen aus dem Bereich Tanz/Performance. – Dann begann das Festival mit der sehnsüchtig erwartetet Erstaufführung von ONE SONG.

Von Moritz Jähnig

Die Ausführung war ein wahrer Kraftakt für alle Seiten. Die Künstler performten über eine Stunde aus Leibeskräften. Das Publikum saß bei einem erhöhtem und sich steigerndem Geräuschpegel in die Sessel gedrück wie bei einem Flugzeugstart. Als das Geräusch dann wegblieb, regte sich sofort entschlossen Applaus, weil jeder froh war, sich selbst wieder regen zu können. Aber aber das große Ritual, dem beigewohnt werden konnte, war noch lange nicht zuende. Und wird es vielleicht nie sein.

Eine Tribüne, ein Spielfeld, ein Team. Fanschals mit symbolischen Slogans und eine Geigerin auf dem Schwebebalken. Ein männlicher Cheerleader, ganz in Weiß gekleidet, und in Rot eine Schiedsrichterin am Megafon. Ein Sänger auf dem Laufband, begleitet von einem Schlagzeuger, der überall auftaucht. Dazu Flaggen und ein Lied, das die Stimmung immer weiter anheizt: In ONE SONG (ein Lied) wagt die Belgierin Miet Warlop den Spagat zwischen Sport, Wettkampf und Rockkonzert. Die 15 Performer:innen steigern sich in eine Art Trance, bis zur völligen Verausgabung. Wie eine Glaubensgemeinschaft in Ekstase scharen sie sich um ein Lied, das sinnstiftend den Geist ihrer Community verkörpert. Und das uns eine Frage stellt: Sind wir stark genug, um den Schatten unserer Vergangenheit zu entkommen? Die Performer:innen laufen und singen, skandieren, musizieren und hüpfen – immer schneller, immer furioser – wie in einer Introspektion unserer aktuellen öffentlichen Rituale. Versuchen dabei, Schmerz und Kummer im Spektakel zu ersticken, an dem sie sich selbst berauschen. Am Ende legen sie die Hand aufs Herz und singen eine Hymne, wie um sich gemeinsam über eine Apokalypse hinwegzutrösten: „Gram ist wie ein Fels in deinem Kopf – hart und rau“.

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Denn in dem Tanzstück von Miet Warlop geht es um Trauer, ihre Macht, Absurdität und Totalität und die sinnlosten, Kräfte aufzehrenden Versuche, mit ihr zurecht zu kommen. Die belgische Choreografin verbindet eigene Trauererlebnisse um ihren Bruder mit allgemeingültigen theatralischen Bildern von der Seiltänzerin, die leichten Fußes über dem Abgrund schwebt, dem Metronom, das unbarmherzig den Takt angibt, dem Regen, einem Folgewesen des griechischen Trauergottes Penthos, den grauen Totentafeln, auf denen belanglose Stereothype zu lesen sind u.a.

Diese Elemente sind eingestreut in die fesselnde Performance eines Konzertes, das im Handumdreh zum Wettkampf gerät. Die zwölf Darsteller, zwei Frauen, zehn Männer, singen das eine Lied, ONE SONG. Sie steigern sich in den Vortrag hinein wie Athleten in den Wettkampf. Jeder versucht den andern bei Gesang und Fitness zu überbieten. Die Kostüme kennzeichen genau, welche Rolle jeder in diesem immer währenden Ritual spielt. Wer regelmäßig die Maschinen im Studio besucht, also „zum Sport geht“, kennt diese stummen Wettkämpfe und entschlüsselt leicht die Zeichen.

ONE SONG von Miet Warlop verhandelt schwere Themen mit Humor. Es erzählt in so noch nicht auf der Bühne gesehenen Weise vom Irrsinn des Lebens und der Kraft, mit der Menschen es angehen. Insofern war das Gastspiel eine guter Auftakt der euro-scene 2023.

Credits

besuchte Vorstellung 7.11.2023; veröffentlicht 8.11.2023

Text: Moritz Jähnig, freier Theaterkritiker und Herausgeber, Leipzig

Foto (4): © Michiel Devijver

Zum Programm

https://euro-scene.de/

Szenenbilder

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