Das Schauspiel Leipzig lässt Michail Bulgakows Meister und Margarita tanzen.
Michail Bulgakows (1891 – 1940) Der Meister und Margarita ist „ein philosophischer Roman, von dem man sich nicht losreißen kann, den man mit dem gleichen lebhaften, nicht nachlassenden Interesse liest, wie ein Werk mit spannendem Sujet, etwa einen Kriminalroman. In jedem Kapitel geschieht etwas.
Von Henner Kotte
Das ist eine Sammlung von Bildern im Geiste Goyas – zugleich aber ist alles voll innerer Bedeutung, manchmal rätselhaft, manchmal lustig und voller Schwermut. Die Helden sind so bildhaft gezeichnet, dass man sie bisweilen mit der Hand berühren möchte wie eine Holzplastik. Eine der Romanfiguren – der Meister – schreibt einen Roman über Pontius Pilatus, und der Roman wird mit Ereignissen verflochten, die sich vor unseren Augen im Moskau der zwanziger Jahre abspielen“, meinte Schriftstellerkollege Weniamin Kawerin zum Meisterwerk der Weltliteratur. Erst ein knappes Vierteljahrhundert nach Vollendung erlaubte die Zensur seine Veröffentlichung, und diese erbrachte enormen Sog und zeitigte Wirkung. Raubdrucke, Lesungen, Theateradaptionen folgten, folgten, folgten, auch in Leipzig, und nun wieder dieses Welttheater.
Vorhang auf! – die Bühne vom Bühnenbildner Andreas Auerbach ist`s Schauhaus höchstselbst bis hin zu Paneel, Leuchter und Stühlen. Auf denen nehmen die Darsteller Platz, auch jener, der immer alle noch einmal aufstehen lässt. Scheinwerfer werfen`s grelle Licht in den Zuschauerraum. Bitte? Da sind doch die Seiten verkehrt: Die Spieler sind das Publikum? Sitze ich hier, um mich in der Masse zu betrachten? Ist das Unterhaltung? Kunst? Gar Welterklärung? Nein – Bühnengeschehen ist noch niemals Realität gewesen, es ist und bleibt ausgedacht und Inszenierung. Theater ist eine Märchenerzählung, ein Fake, eben ein Schauspiel. Abbild des Lebens? Welch Anmaßung, welch Realitätsverlust! Jetzt besehen sich Zuschauer als Zuschauer selbst. Welcher Blödsinn! Sitzen bleiben oder gehen? Ja oder nein? – Das ist die theaterexistentielle Frage. Keine Kunst kann darauf Antwort geben. Es recht kein Bühnenstück. Trotz all dieses Wissens ist Eintrittskarte erworben und ist drin im Schauspielhaus, guckt zu, ist beeindruckt oder eben nicht – genau das ist der Vertrag, das Versprechen, die Magie, die man erwartet.
It`s magic! stellt der Teufel im Theater fest und handelt. Faust, Jedermann, Des Teufels General sind Klassiker. Auch im Moskau des Diktators Stalin trat Mephisto realiter und literarisch auf. Der Dichter fragt den Unbekannten: „Wer bist du denn?“ und erhält zur Antwort: „Ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft.“ Da gerät die sozialistische Welt aus allen Fugen, das System, es droht zu stürzen. In Michail Bulgakows Roman ist das Geschehen so wahrhaftig wie prophetisch. Gar die Handlungsorte existieren. Moskauer Stadtführungen zeigen gern die Патриаршие пруды, das квартир No. 50 in der задовая 302b und das культурный дом. Und der мастер, ist er nicht das alter ego von Булгаков? Buch und Traum und Wirklichkeit sind eins – genau das ist die Magie.
It`s magic! Bulgakows Roman ist weltweit Kult, und an solchem haben auch Theaterbühnen stets Interesse. Bereits 1986 sah man das verteufelte Geschehen auf Leipzigs großer Schaubühne – was magic! Damals war das Teufelswerk ein Kommentar zur Zeit und machte tristen Alltag bunt. Vor allem stellte es die Fragen, auf die es offiziell nie Antwort gab. Nun hat Claudia Bauer unter Mitwirkung ihres Ensembles eine neue Theaterfassung vom Meister und Margarita erstellt und zeigt, was Kunst und Bühne leisten kann. Die Handlung muss man nicht erklären, vielen ist sie ohnehin bekannt: Unbehaustem Dichter begegnet der Teufel, und der sagt den Tod unbescholtener Bürger voraus. Anderer Ebene quält den Meister die Verfassung seines Romans über die Kreuzigung Jesus`. Die Kulturschranzen verdammen das Werk, nur seine geliebte Margarita glaubt an einen Erfolg. Der Teufel greift ein und treibt auch andere Bürokraten in den Wahnsinn. Der schwarze Kater hilft ihm dabei. Es werden Feste gefeiert. Man jubelt der extravaganten Modewelt zu. Geld wird übers Volk geworfen. Im Irrenhaus trifft man sich wieder. Margarita gibt sich hin, um den Meister zu retten. Das ist wahre Liebe, und der schwarze Kater hat sieben Leben – it`s magic!
Das ist alles Theater und macht es aus: Die Darsteller wechseln die Rollen. Eine Kamera filmt, und die Leinwand ist aus dünnem Papier. Es nebelt. Es blitzt. Es wird gesungen, getanzt und die Sau rausgelassen. Es wird aus der Rolle gefallen und das Publikum direkt angesprochen: Muss Hamlet seine Weltliteraturworte wirklich hersagen oder genügt es, wenn er sie denkt: Sein oder Nichtsein – it`s magic! und ein Tummelplatz für Assoziationen zu allem, was uns bewegt: Bühne, Kunst, Welt und Geschehen, Vergangenheit, Gegenwart, Kulturbetrieb und -erbe, gegenwärtige Kriege, Migration und Medienverhalten. War das ein Zitat vom Meister Goethe? Wladimir Wyssozki? Oder doch Toni Erdmann? Die Bezüge lauern unter jedem Satz, jedem Wort, jedem Gang – das ist Kunst, Zauber, Magie!
Dem Künstlerkollektiv von Maske, Requisite, Video bis hin zum Bewegungschor verlangt die Choreografie dieses Abends alles ab – keine Frage: Die Herausforderungen werden brillant gemeistert – magic! Der schreibende Meister ist Thomas Braungart und als Künstler entrückt. Lyriker Hauslos, Julius Foster, findet vom Traum ins Leben zurück. Magarita, Julia Preuß glänzt, auch wenn sie sich nicht mit Zuckertorte beschmiert. Tilo Krügel zweifelt in mehreren tragenden Rollen perfekt. Wenzel Bannemeyer hat als Pilatus schwer am Urteil der Nachwelt zu tragen. Anna Keil kommentiert, dass man zuhören kann. Den Teufel höchstselbst gibt Dirk Lange gewohnt eindrucksvoll, selten hat man solch smarten Belzebuben gesehen. Aber sein Assistent, der schwarze Kater, läuft ihm den Rang ab, Roman Kanonik – is magic! Das phantastische Geschehen wird von Live-Musik Prada Meinhoffs perfekt untermalt. Paul Pötsch an der Gitarre, Christin Nichols Gesang. Vanessa Rusts Kostüme passen genau Darstellern und Stück. Da gibt`s nichts dran zu kritteln – großartige Leistung! Diese Theaterkunst ist harte Arbeit, man sieht`s ihr nicht an – genau das ist die MAGIE!
Und nochmals ein russischer Meister des Worts – Maxim Gorki: „Die Literatur ist das Herz der Welt. Dieses Herz schlägt unermüdlich in dem Verlangen nach Selbsterkenntnis. Die Literatur ist vielleicht das größte und komplizierteste Wunder, das die Menschheit auf dem Weg in eine glückliche und große Zukunft geschaffen hat.“
Annotation
„Meister und Margarita“ nach dem Roman von Michail Bulgakow, aus dem Russischen von Alexander Nitzberg, für die Bühne bearbeitet von Claudia Bauer und Ensemble; Schauspielhaus Leipzig; besuchte Vorstellung Premiere am 07. März 2020; veröffentlicht 14.04.2020
Foto: © Ralf Arnold