Musikalisch lassen Andrea Battistoni und die Staatskapelle Arrigo Boitos makellos strahlen
Spielzeiteröffnung an der Semperoper unter neuer Intendanz. Nora Schmid führt sich mit keinem der Hausgötter vom Dresdner Theaterplatz ein, sondern erwählte – ganz trittsichere Dramaturgin – einen kaum gespielten Meister aus deren Sphäre aus, der wunderbar ins Ambiente passt. „Mefistofele“ ist wie ein ausgerollter roter Teppich für die Stärken der Semperoper. Am Werk lässt sich Tradition zeigen und fortschreiben. Sie verkraftet unbeschadet jeden dem Mainstream vermeintlich geschuldeten Akzent.
Von Moritz Jähnig
Der große Synkretist
„Mefistofele“ ist die einzige erhaltene Oper von Arrigo Boito. Trotz dieser scheinbar nur mageren Bilanz war der Komponist zu seiner Zeit (1842–1918) beruflich engagiert und voller Leidenschaft in der italienischen Musiktheaterszene aktiv. Boito gehörte zu den Freunden und Mitarbeitern Giuseppe Verdis. Er bewunderte und verehrte das Opernschaffen Richard Wagners. Sein Ehrgeiz richtete sich darauf, die französische Grand Opéra mit der romantischen deutschen und der italienischen Operntradition zu verbinden. Die 1875 in Bologna uraufgeführte Goethe-Vertonung passt an die Dresdner Semperoper und zur Staatskapelle wie keine zweite. Hoher ästhetisch-künstlerischer Anspruch, philosophischer Überbau, Italiana und herausfordernde Chorkompositionen en masse. Arien aus „Mefistofele“ sang Caruso auf Schellack ein.
Zwiespältiger Eindruck von der szenischen Umsetzung
Wenn man im Laufe des über dreistündigen Abends mehrmals mit Fausts Worten rufen mochte: „Verweile doch, du bist so schön…“, dann galt das dem musikalischen Erlebnis. Über die szenischen Eindrücke etwas Zusammenfassendes zu sagen, fällt schwerer.
Die Kostüme zitieren Moden durch die Zeit und wirken sehr heutig. Der Bühnenraum besteht aus einem Halbrund mit Galerien und einer verkanteten Drehscheibe. An der Bühnenrampe eine Sitzbank. Gefüllt und gestaltet wird das Rund mit bewegten Körpern auf der Drehbühne. Ein Chortableau folgt dabei dem anderen.
Nebenbei gesagt: In der Walpurgisnacht beispielsweise drängen und wiegen sich desexualisierte Figuren. Was ist in Zeiten der Wokeness aus dem Hexensabbat geworden? Armer Satan.
Die große Ausnahme bildet die zentrale Szene der Inszenierung wie der Oper: Gretchen im Kerker. Hier spielen die Sänger, werden ergreifend im Ausdruck.
Erdrückender philosophischer Überbau
Die Inszenierung ist hoch ambitioniert und „will Zeichen setzen“. Symbolschwer wird mit einer Serviette hantiert oder Äpfel bedeutungsvoll weitergereicht. Aber wird nicht symbolisiert, was jeder Mensch weiß und erfahren hat?
In der schon genannten Faust-Margherita-Geschichte geht es um Liebe, Täuschung, Schuld und Vergebung. Das menschliche Drama lag für Goethe klar auf der Hand, und Boito übersetzte es – dem Text vertrauend – wörtlich für sein Libretto. Die Inszenierung von Eva-Maria Höckmayr setzt auf das Verhängnis eine moralische Schippe drauf und lässt im dritten Akt „Kerker“ die von ihr eingefügte Figur „Eine Frau“ Texte aus „Faust“ I und II sprechen. „Eine Frau“, Martina Gedeck, ist wie Mefistofele eine außerirdische Figur und bewegt sich als stumme Kommentatorin – wenn es sowas gibt – durch das Stück.
Wer die Einführung vor der Einführung gehört hatte, wusste, dass sie als Ex-Partnerin des dem Nihilismus verfallenen Mefistofele mit einem eigenen verlorenen Kind aus dieser Beziehung gedeutet werden könnte. Gewonnen wird mit philosophisch verquastem Zeitgeist-Trallala nichts.
Es schadet aber scheinbar auch nicht wirklich. Sein Publikum entließ das bedeutende Opernwerk tief berührt.
Verneigung vor der musikalischen Leistung
Verneigen wir uns vor allen Solisten, feiern wir die Sänger von Chor, Extra- und Kinderchor, die in ausufernden Szenen das italienische Opernerbe zelebrieren. Verneigen wir uns vor der Staatskapelle unter dem Boito-Kenner und -Verehrer Andrea Battistoni. Das Orchester kann zart und kantabel sein, gibt aber in beiden Teilen sein Bestes im Fortissimo, das nicht laut, sondern dringlich wird.
Gesanglich herausragend im exzellenten Solistenensemble ist die finnische Sopranistin Marjukka Tepponen, ein blühender Sopran mit großer Leuchtkraft und menschlich sehr einnehmend. Der lyrische Tenor Pavol Breslik singt den Faust überzeugend, der bei ihm stimmlich kein böser Mann ist. Klamottenmäßig aufgemacht als Doppelgänger von Mefistofele, gleicht er dem Scheusal kaum.
Krzysztof Baczyk bringt für die nihilistische Teufelsfigur die nötige Bühnenpräsenz und Spielfreudigkeit mit. Er ist ein kalter, zynischer Spielmeister, der selbst mittanzt, wenn er die Puppen tanzen lässt. Sein Singen klingt entspannt heiter, wenn er seine Couplets bietet.
Fazit
Manchmal ist es so: verrätselte Bilder, verworrene Gedankenlinien, ein großes Thema und vor allem große Musik. Hingehen und hören.
Annotation
„Mefistofele“ von Arrigo Boito. Oper in einem Prolog, vier Akten und einem Epilog. Libretto vom Komponisten nach Johann Wolfgang von Goethes Faust. Semperoper Dresden. Andrea Battistoni (Leitung), Eva-Maria Höckmayr (Regie), Momme Hinrichs (Bühne & Video), Julia Rösler (Kostüme), Olaf Freese (Licht), Jan Hoffmann (Chor), Claudia Sebastian-Bertsch (Kinderchor), Dorothee Harpain & Alexander Meier-Dörzenbach (Dramaturgie)
Krzysztof Bączyk (Mefistofele), Martina Gedeck (Eine Frau), Pavol Breslik/José Simerilla Romero, (Faust), Marjukka Tepponen (Margherita), Clara Nadeshdin (Elena), Nicole Chirka (Marta), Omar Mancini (Wagner), Dominika Škrabalová (Pantalis), Jongwoo Hong (Nereo)
Sächsischer Staatsopernchor Dresden, Kinderchor der Semperoper Dresden, Komparserie, Sächsische Staatskapelle Dresden
Premiere 28.9.2024; besuchte Vorstellung 1.10.2024; veröffentlicht 2.10.2024
Credits
Text: Moritz Jähnig, freier Theaterkritiker, Leipzig
Foto: (2) © Semperoper Dresden/David Baltzer und (2) Ursula Rittershaus