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Neustrelitz: Delikatesse zum Saisonende

Neustrelitz: Delikatesse zum Saisonende

Theater und Orchester Neubrandenburg / Neustrelitz warten auf mit Paul Hindemith

Was haben Neustrelitz und Palermo gemeinsam? In der Oper wird vom Publikum in die laufende Szene rein geklatscht, wenn etwas gefällt. Was solls. Fotografiert wird im Landestheater auch, ohne das jemand was sagt. Weil es vielleicht ok ist? Denn wer fotografiert, kann nicht applaudieren. Und die Hindemith-Oper, über die wir berichten läuft ja eh Sturm gegen jeder Art Konvention. Also Applaus, Applaus.

            Von Moritz Jähnig

Alle Privates wird öffentlich. Szene aus „Neues vom Tage“

Einleitung: Eine seltene Oper wird gefeiert

Die selten gespielte „Lustige Oper in drei Teilen“ wird in der mitreißenden und sehr unterhaltsamen Inszenierung von Anika Nitsch in Neustrelitz von einem aufgeschlossenen Premierenpublikum zurecht gefeiert. Das gar nicht kleine, sondern höchst komplexe Werk entsprang dem Geist der Neuen Sachlichkeit im Westeuropa der Zwischenkriegszeit. Das Morden ist vorerst wieder beendet, die Wirtschaft liegt am Boden. Ernüchtert bemühen sich Künstler um eine illusionslose Darstellung der Gesellschaft, Technik und zum Beispiel auch Erotik. Das große Feiern der vermeintlich Goldenen Zwanziger läuft auf Hochtouren.

Historischer Kontext und kulturelle Einflüsse

Der große Sohn Geras, Otto Dix, soll übrigens den Begriff Neue Sachlichkeit als einer der Ersten mitgeprägt haben. Womit ein weiteres Agens diese Oper angedeutet wird: die Industriekultur, die industrielle Entwicklung, in deren Folgen Frauen berufstätig werden, Ehescheidungen überhaupt in den Rahmen des Möglichen rücken und die revolutionäre Medientechnik neue Berufsfelder hervorbringt wie die Filmstars, deren moderne Kinder wir etwas hilflos Influencer nennen. Sie vermarkten ihre Privatheit und ihre Familienleben und können gut davon leben.

Bürokratie bleibt sich gleich. Szene mit Ryszard Kalus als Standesbeamter in „Neues vom Tage“

Am heiteren Glücksrad auf dem Rummelplatz Großstadt Berlin haben auch die jungen Künstler Paul Hindemith und Otto, genannt „Marcellus“ Schiffer, kräftig mitgedreht. Schiffer war zum Zeitpunkt der Uraufführung 1929 in Berlin als Texter und Kabarettist selbst schon gut im Unterhaltungsgeschäft. Er arbeitete mit dem König der Berliner Revue dieser Jahre, dem Komponisten Mischa Spoliansky, zusammen.

Die Zusammenarbeit von Hindemith und Schiffer

Dann lernte er den 34-jährigen Hindemith kennen, der Konzert- und Opernmusik komponieren wollte, die auf der Bühne nicht von Walküren erzählt, sondern die Wirklichkeit des Publikums widerspiegelt. Schiffer lieferte ihm einen Stoff, wie er junge Leute – zu jeder Zeit – beschäftigt: Ehekrach, Scheidung, Eifersucht. So langweilige Kulturtempel wie ein Museum oder die leidige Bürokratie. Hindemith ironisiert die Handlung musikalisch fortwährend mit Zitaten und klanglichen Anspielungen auf die seinerzeit als altbackenen empfundenen Opern von Wagner, Richard Strauss und anderen. Mit Foxtrott und Jazz hält er dagegen.

Szenische Rasanz durch musikalische Brüche

Wenn sich Laura (Laura Albert) und der schöne Herr Hermann (Alexander Geller) im Museum bei dem gefakten und bezahlten Rendezvous nahekommen, klingt das musikalisch wie „Tristan und Isolde“. Es klingt wie echte Liebe und ist doch alles nur für Geld bestelltes Theater. Dann erscheint Eduard (Robert Merwald), Lauras Noch-Ehemann, empört sich ebenfalls hochdramatisch in Bayreuther Tonlage und knallt wütend vor Eifersucht eine 3000 Jahre alte, aus einem Stück geformte Skulptur ohne Arme zu Boden. Immer wieder kippt diese irre Szene durch den folgenden Jazz und das Klavier zu vier Händen ins voll Absurde.

Der urbane Großstadt-Sound, den Paul Hindemith so perfekt getroffen, wirkt durch die schmerzenden Brüche szenisch noch mitreißender. Vermutlich haben sich Texter und Komponist bei ihrer Arbeit an diesem Werk absolut amüsiert, wie das Publikum in Neustrelitz es mit dem Ergebnis tut.

Inszenierung und Darstellerleistungen

Der Inszenierung gelingt es zusammen mit ihrer Bühnen- und Kostümbildnerin Monika Diensthuber, die Geschichte tatsächlich mit Mitteln wie dem Nummernziehen auf der Behörde oder den endlosen Touristengruppen mit Handy im Museum in der Oper ihre Wirklichkeit zu erzählen. Auch durch das pausenlose Handykommunizieren und -fotografieren auf der Bühne bekommt die Gesellschaft auf den Rängen den Spiegel vorgehalten und fotografiert zurück.

Szene aus „Neues vom Tage“. Robert Merwald und Laura Albert (M.) und Ensemble

Die Szenenwechsel ermöglicht die Drehbühne. Es sind einfache Bilder. Die wenigen Möbel werden dabei elegant als Zeichen eingesetzt. Nicht voll überzeugend sind das Gefängnis und auch das Büro.

Für das gute Funktionieren sorgen spielstarke Ensemble. Herr und Frau M. (Andrés Felipe Orozco und Julia-Baier-Tarasova) sind unsagbar witzig im Spiel dieses dauernden Hin und Her von Scheidung und glücklicher Wiedervereinigung. Damen und Herren des Chores und der Statisterie haben alle klare Szenenaufgaben und erfüllen diese.

Im Shwoprogramm des dritten Opernteiles tritt im ganzen Wirbel das Tanzhaus der Deutschen Tanzkompanie auf und erhielt zu Premiere verdient zum Applaus einen Blumengruß.

Gesungen wurden die hoch anspruchsvollen Partien durchweg exzellent. Die großen Ensembles hätten mit weniger Kraft dem Wohlklang eine noch tiefere Verbeugung erwiesen. Der fabelhaften Heiterkeit und stilistischen Präzision, mit der die Neubrandenburger Philharmonie unter der sicheren Stabführung von Daniel Klein zur Premiere ihr Können in diesem Repertoire bewies, wäre, wie dem Projekt als Ganzem, eine höhere Aufführungszahl zu wünschen.

„Neues vom Tage“

Die nächsten Vorstellungen

31. Mai und 1. Juni 2024

Dankenswert ist die Ankündigung, Werke wie „Neues vom Tage“, die trotz ihrer hohen Qualität nach 1933 von den Bühnen verschwanden, am Theater und Orchester Neubrandenburg / Neustrelitz regelmäßig wiederzuentdecken.

Annotation

“Neues vom Tage”. Lustige Oper von Paul Hindemith. Text von Marcellus Schiffer. Theater und Orchester GmbH Neubrandenburg / Neustrelitz. Musikalische Leitung: Daniel Klein, Inszenierung: Annika Nitsch, Bühnen- und Kostümbild: Monika Diensthuber, Chor: Joseph Feigl, Dramaturgie: Sebastian M. Richter, Choreografie: Lenka Liebling

Besetzung

Laura: Laura Albert, Eduard, ihr Ehemann: Robert Merwald, Der schöne Herr Hermann: Alexander Geller, Herr M.: Andrés Felipe Orozco, Frau M.: Julia Baier-Tarasova, Ein Standesbeamter/ Ein Hoteldirektor: Ryszard Kalus, Ein Fremdenführer: Andreas Hartig, Ein Zimmermädchen: Gabrielle Penney, Ein Oberkellner: Sungwoo Park, Sechs Manager: Chor-Herren. Opernchor der TOG, Tanzhaus der Deutschen Tanzkompanie, Statisterie der TOG, Neubrandenburger Philharmonie

Premiere und besuchte Vorstellung 25.5.2024; veröffentlicht 26.5.2024; Aktualierung 26.5., 21 Uhr

Credit

Text: Moritz Jähnig, freier Theaterkritiker, Leipzig; Herausgeber

Foto: © Theresa Lange

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