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Naumburg: Spekulatives Schreiten

Naumburg: Spekulatives Schreiten

Theaterspaziergang im Naumburger Dom auf den Spuren von Jesus Christus

Das kleinste Stadttheater Deutschlands hat über sein wirklich breites Spielplanangebot hinaus auch Erfahrungen mit großen Musiktheaterproduktionen im Naumburger Dom. 2019 erlebten wir zu Hochzeiten der #mytoo-Debatte  Händels Oratorium „Susanna“. Jetzt nimmt das Ensemble sein Publikum beim 6. Theaterspaziergang an die Hand und führt es „Auf den Spuren von Jesus Christus“ durch Welterbe, Kriegsertüchtigung und Klimadebatte.

Von Moritz Jähnig

Der 6. Theaterspaziergang führt über sechs Stationen durch den Dom

Der Dom zwingt seine Gangart jedem auf. Wer hier rumflitzt, einmarschiert, bilderstürmt wird zum Fremdkörper. Waren die vorherigen Naumburger Theaterspaziergänge zu Turnvater Jahn, Friedrich Nietzsche oder der historischen Straßenbahn vielleicht für bildungsbeflissene Flaneure, bewegt sich die fünfte Auflage – konzipiert, verfasst und inszeniert von Intendanten Stefan Neugebauer – unter besonderen raumspezifischen Rahmenbedingungen. Was der erfahrene Theatermann natürlich weiß und sich wiederum für sein Anliegen zunutze zu machen sucht. Wo die von ihm etwas großzügig angekündigten Spuren von Jesus Christus verlaufen, denen sein Publikum folgen soll, bleibt Spekulation.

Geschätzt 70 Erwachsene jeden Alters werden in die Marienkirche, der 1. Station, geführt und nehmen wie zum Gottesdienst mehr oder weniger geübt im Kirchenschiff Platz. Auf dem Flügel wird die „Ode an die Freude“ intoniert.

Mehr Aktualität geht nicht – und brauchts nicht

Anschließend tragen drei Protagonisten den gegenwärtig die Diskurse bestimmende Positionen vor. Ein geschniegelter Politiker (Paul Maximilian Schulze) ruft zu verstärkten Rüstungsanstrengungen für einen bewaffnetem Frieden auf. Ein junger Pazifist (Sebastian Zumpe in 68er Attitüde), mit Anti-Atomwaffen-Symbol auf dem Hudi, lehnt Krieg und jedwede Bewaffnung ab. Eine sich eckig gebende Klimaschutzaktivistin (Ruth Weingarten, herrlich das alarmistische Stimmregister einsetzend) progagiert alles Heil aus Blockaden globaler Logistikketten.

In diese jedem bekannte, ratlos machende gesellschaftliche Dissonanz erschallt von der Orgelempore herab die Stimme Jesu Christi. Sie ruft zu Besinnung und Nachfolge auf.

Jesus Christus wird von einer jungen Frau mit kurzem Haar dargestellt (Barbara Elisabeth Bühl), in weißem Hemd und Handwerkerhose. Sie geht singend voran und führt die Besucherprozession durch den romanischen Kreuzgang zur 2. Station, der Kirchentür im Kassenbereich, später weiter in Westchor, Kirchenschiff, Krypta…  

Anregende Text-Zusammenstellung

Diese Prozession verläuft auffallend diszipliniert, andächtig, bewegt, mancher wirkt sogar eingeschüchtert. Unbewusst selbst schreitend folgt die Gruppe dem Akteur und den mahnenden Texten. Sie sind Collagen und Zitate aus Bergpredigt, Martin Luther King, Greta Thunberg u.a.

Chancen zu einer ironischen Brechung der aufgebauten erhabenen Stimmung gibt es zwar zwischendurch. Sie werden aber nicht ergriffen. Zum Beispiel funktioniert Theater in seiner Mehrdimensionalität nicht, wenn im Dialog im Vorraum die Vertreibung der Händler aus dem Tempel (Mt. 21) verhandelt wird und die Türen zum Welterbe-Shop mit dem hübschen merchandising fest geschlossen sind.

Der starke Eindruck, den das theatralische Erlebnis insgesamt hinterlässt, speist sich auch aus dem wunderbaren Gesang des Kammerchores. Namen und Beiträge lassen sich nicht nennen. Das Programmheft war zur Aufführung nicht greifbar. Auf jeden Fall harmonisiert der Kammerchor selbst die heiklen Momente im Westchor. Nicht wenige bezeichnen das Triegel-Marienaltar-Bild zwischen den Stifterfiguren als aggressiv kitschig. Auch so ein Glaubenskrieg unserer Zeit.

Barbara Elisabeth Bühl als Jesus Christus. Im Hintergund die 15 Sängerinnen und Sänger des Kammerchores

In dieser 3. Station öffnen sich Architektur, bildende Kunst, Meditationstext und Gesang zu einem großen Assoziationsraum. Das sind die vom Theater Naumburg gesuchten Momente einer Verbindung von Theater zur regionalen Geschichte und der Thematisierung aktueller politischer Fragen.

Wer Verkündigungsspiel mag und akzeptiert, nimmt viel aus dem 90minütigen Abend mit. Seine Botschaft spricht aus dem Herzen.

Annotation

„Naumburger Theaterspaziergang im Naumburger Dom auf den Spuren von Jesus Christus“. Theater Naumburg. Idee & Regie Stefan Neugebauer, Dirigat Jan-Martin Drafehn, Beratung Michael Bartsch (Domprediger).

Besetzung

Barbara Elisabeth Bühl, Paul Maximilian Schulze, Ruth Weingarten, Sebastian Zumpe; Naumburger Kammerchor

Premiere 14.4.2024; besuchte Vorstellung 18.4.2024; veröffentlicht 19.4.2024

Credits

Text: Moritz Jähnig, freier Theaterkritiker und Herausgeber, Leipzig

Foto (3): © Torsten Biel

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