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Nancy/Frankreich: Neue Beiträge zur Übergangsgesellschaft

Nancy/Frankreich: Neue Beiträge zur Übergangsgesellschaft

„Héroïne“ vereint Bartók, Hindemith und Honegger an der Opéra National de Lorraine

Von Theaterreisen nach Frankreich bringen Kritiker comme si je passais Unerwartetes mit. So auch aus dem leistungsstarken Opernhaus Nancy in Lotringen, also historisch gesehenen einer Durchgangsregion. In „Héroïne“ verortet die Opéra National de Lorraine „transgression“, den Übergang, in ihrem dreiteiligen Abend mit Paul Hindemiths „Sancta Susanna“ (1922), Béla Bartóks „Herzog Blaubarts Burg“ (1918) und Arthur Honeggers szenischem Oratorium „La Danse des morts“ (1940).

Von Roland Dippel

Mit einfachen Mitteln entwickelte Anthony Almeida eine straffe wie präzisionsscharfe Personenregie. Star des Abends ist trotz hervorragender Besetzungen mit Rosie Aldridge (Judith / Klementia), Anaïk Morel (Susanna) und Joshua Bloom (Blaubart) der in „La Danse des morts“ prachtvoll präsent Chor unter Leitung von Guillaume Fauchère. Viel Applaus für sinnlich verdichtetes und hochkonzentriertes Musiktheater. 

Das Orchester pulsiert schlichtweg magisch

Religiös verortet sind die beiden Rahmenstücke. Sora Elizabeth Lee bringt am Pult des Opernhauses an der Place Stanislas den sonst als etwas trocken verrufenen Hindemith zum Leuchten. Die Frühlingsnacht, welche hinter kalten Klostermauern die Sinne der rothaarigen Schwester Susanna explodieren lässt, klingt unter Sora Elizabeth Lee fast wie Debussy aus der Perspektive von Massenet: dicht, samtig und mit üppigem Fluidum. Das Orchester pulsiert schlichtweg magisch. Exponierte Instrumente wie Harfe und Bläser zelebrieren bis zum Schluss die von der Szene beschworenen „Übergänge“ und stellen sich so teilweise in Opposition zur Härte des Geschehens. 

Insgesamt entsteht ein Abend der drastischen Reibungen. Am Ende öffnet sich der starre schwarze Kasten Basia Bińkowska mit den metallenen Maschendrahtwänden an den Seiten zu Honeggers „Totentanz“ auch symbolisch. Das Spielgeschehen springt da von der personellen Vereinzelung ins Kollektive.

Der Einfachheit verpflichtet

Bińkowskas Kostüme, auch Franck Evins Raumnischen schaffendes Light Design ist hier einer sinnfälligen und gehaltvollen Einfachheit verpflichtet. Klare Gesten, intensives Agieren und starke Setzungen durch Ensemble wie den fulminanten Chor hat dieser Abend. Exemplarisch dafür sind schon die minimalen Zuckungen von Anaïk Morel unterm Nonnengewand und ihr mehr blühendes als oppositionelles Aufbegehren. Die erotische Klimax dieser Obsession hat nichts Hysterisches und gewinnt vor der Mauerlinie starrer Ordensschwestern logische Zwangsläufigkeit.

Feministische Klammer

Um die Stücke sinnfällig zu verklammern, lässt Almeida ein adoleszentes Mädchen beobachten, was ältere Geschlechtsgenossinnen erdulden, abschmettern und ersehnen. Fraglich ist, ob frau in Erwartung solcher Lebenskämpfe jemals erwachsen werden will. Auch die spirituelle Reise in Honeggers „Totentanz“ wird an diesem Abend von der generellen Menschen- zur Frauensache.

Wie in der vormodernen Bildersprache stehen vier Generationen in Erwartung der letzten Reise zusammen – Kind, junge Frau, Matrone, Greisin. Yannis François bleibt in Honeggers wunderschönem Bariton-Solo geerdet, vermag sich nicht in die seraphische Höhe zu erheben. Starkes Bild: Honegger zitiert in seinem „Totentanz“ die Carmagnole und „Sur le pont D’Avignon“. Der Chor – wie die Nonnen und alle Einzelfiguren in Schwarz und Weiß – befeuert den Übergang ins Jenseits dazu, als ginge es ein Sportevent. Letztlich denkt Almeida also doch über das Motto „Héroïne“ hinaus.

Bela Bartóks Seelenkammern als Höhepunkt

So wird „Herzog Blaubarts Burg“ zum Höhepunkt – gänzlich ohne dekorative Illustrationen von Blaubarts sieben Seelenkammern mit den von Blut befleckten Schmuckstücken und Folterinstrumenten. „Liebe mich ohne zu fragen“ singt Blaubart und bewegt sich in einem selbstversunkenen Tanz. „Liebe mich“ fordert die lebens- und berührungshungrige Judith, die für ihre hypnotische Leidenschaft zum schizoiden Herrn der Seelenmauern alles hinter lässt.

Die Nationaloper Nancy…

….wurde am 14. Oktober 1919 mit einer Aufführung der Nibelungenoper „Sigurd” von Ernest Reyer erfolgreich eröffnet.

1994 fand eine umfassende Renovierung und Restaurierung des Hauses statt, welche den Urzustand wieder herstellte. Sie stand unter Leitung des Architekten Thierry Algrin, einem Spezialisten für denkmalgeschützte Bauten.[1] Am 1. Januar 2006 verlieh das Ministerium für Kultur und Kommunikation dem Opernhaus den Titel Nationaloper – als fünftem Haus außerhalb von Paris, nach Lyon, Bordeaux, Straßburg und Montpellier.

© Bjoertvedt/wikipedia

Schlichte Linie statt Dämonie

Mit hier packend gesteigerter Irritation spielt sie ‚va banque‘ und verspielt dadurch das junge Beziehungsglück. Rosie Aldridges sinnliche Vitalität und Kraft-Vokalität prallen auf einen Blaubart von fast rührendem Sympathie-Appeal. Joshua Bloom singt gar nicht dämonisch oder charismatisch, sondern ganz schlicht.

An dieser Schlichtheit prallt Judith ab – und an der kolossalen Geste, mit der Blaubart die Größe seines Seelenreichs markiert und der Person an seiner Seite allenfalls einen Randplatz zugesteht. An Blooms Blaubart zehrt Judith aus und verglüht. Hinter ihrer Suche nach Verschmelzung und Blaubarts Abwehren lauert zwischenmenschliches Vakuum, also das Nichts. „Play Strindberg!“ im Opernformat.

Intensiv gelingender Abend

Die Namensgebungen „Susanna“ durch den Librettisten August Stramm für Hindemith und „Judith“ durch Béla Belász für Bártok sind exegetische Mogelpackungen. Denn Susanna gibt sich unter Druck ihrer Obsessionen selbst frei und wird nicht Opfer einer Voyeurismus-Offensive durch geile Männer wie ihre biblische Namensgeberin. Und Bártoks Judith erlegt kein Männeropfer, sondern wird durch eigene Ängste zu Blaubarts letzter und mit einem innigen Abschied bedachter Geliebter.

Mit sinnlicher Entfesselung in „Sancta Susanna“, modellhafter Archetypik wie aus dem Psychologie-Lehrbuch in „Herzog Blaubarts Burg“ und einer fast säkularen Sichtweise von „Totentanz“ geht der Abend massiv unter die Haut: Gluthitze aus konzentrierter Szene und impulsiver Musikalität.

Annotation

Héroïne: „Sancta Susanna“, „Herzog Blaubarts Burg“ und „La Danse des Morts“. Opéra National de Lorrain. Musikalische Leitung: Sora Elisabeth Lee, Chöre: Guillaume Fauchère, Regie: Anthony Almeida, Bühnenbild und Kostüme: Basia Bińkowska, Licht: Franck Evin

„Sancta Susanna“, Oper in einem Akt, Libretto: August Stramm, Musik: Paul Hindemithm, Besetzung: Sancta Susanna: Anaïk Morel, Klementia: Rosie Aldridge, A maid: Apolline Raï-Westphal, A valet: Yannis François, An old nun: Séverine Maquaire

“Ritter Blaubarts Burg”. Oper in einem Akt, Libretto: Béla Balázs, Musik: Béla Bartók, Besetzung: Bluebeard: Joshua Bloom, Judith:  Rosie Aldridge 

“Dance of the Dead”. Oratorium, Libretto: Paul Claudel, Musik: Arthur Honegger, Besetzung: Alto: Mïk Morel, Soprano: Apolline Raï-Westphal, Baritone: Yannis François, A woman: Claire Wauthion, A girl; Salma-Faïhrouz Jacquot-Anseur, Adèle Thirion (in alternation)

Orchester und Chor der Opéra National de Lorraine.

Besuchte Vorstellung 5.10.2024; veröffentlicht 12.10.2024 mit Genehmigung des Autors; Erstveröffentlicht 9.10.2024 in nmz

Credits

Text: Roland Dippel, freier Theaterkritiker, Leipzig/München

Foto: © Jean Louis Fernandez

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