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Leipzig: Freispruch für Woyzeck?

Leipzig: Freispruch für Woyzeck?

Büchners Klassiker vielschichtig erfasst am Schauspiel Leipzig

Die Premiere im Leipziger Schauspielhaus fand in zeitlicher Nähe zum Finale der Abiturprüfungen „Leistungskurs Deutsch“ statt. Viele junge Leute mit ihren Tutorinnen und Tutoren waren im Publikum wahrzunehmen. So lebendig ist es gefühlt nicht oft im Foyer des Theaters.

Von Petra Kießling

Szene mit Christoph Müller, Woyzeck und Bettina Schmidt, Marie

Historische Stadtführungen als Ergänzung

Zeitlich anknüpfend an die Inszenierung gab es Stadtführungen, die den Spuren eines der realen Ereignisse folgten, dem „Fall Woyzeck“, der sich tatsächlich in Leipzig ereignete. Der Fall Woyzeck ist zudem ein Fall, der in jeder Zeit spielen kann. Heute würde man von einem Femizid sprechen. Dieser und weitere Mordfälle seinerzeit waren Büchners Ansatzpunkte für das Stück.

Enrico Lübbes stille und eindringliche Inszenierung

Der Woyzeck. Ein Stoff, der vieles ermöglicht. Ein offenes Drama, geschrieben von einem jungen Mann und aufgrund Büchners frühen Todes nur fragmentarisch in mehreren Fassungen überliefert. Enrico Lübbes Inszenierung gab den Figuren einen stillen Raum. Das anpassungsfähige Bühnenbild von Etienne Pluss zeigte im Zentrum eine angeschmutzte, graue und modular aufgebaute Türen-Wand auf der sich drehenden Bühne.

Die Szenen verwandelten die Bühne wechselseitig in intime und öffentliche Räume. Das Spiel mit den Türen ließ Figuren auf- und abtreten, verhinderte und ermöglichte Zutritt oder Flucht. Die Protagonisten jeder Szene wurden in einem sehr gleichmäßigen Tempo durch das Stück getrieben.

„Woyzeck“

nächste Vorstellungen

29.5., 11.6., 1.10.2024

Klavier und Schlagzeug gaben den Takt an, der auf der Bühne unter anderem an einer Stelle mit den Worten „Immer zu, immer zu“ von betrunkenen Soldaten intoniert wurde. Es ist ein Takt, dem der getriebene Mensch folgen muss, wenn er dazugehören will.

Beeindruckendes Schauspiel

Die Hauptfiguren, der Woyzeck und seine Geliebte Marie, werden brillant durch Christoph Müller und Bettina Schmidt verkörpert. Sie dominieren nicht, sind gefangen in ihrer Zeit und ihrem Umfeld. Am Ende des Stückes wird die Ausweglosigkeit für Woyzeck zugespitzt. Musik, Stimmen, Bühne, Licht und Videobilder strömen auf Woyzeck ein, und keine Tür ist offen, ohne Ausweg. Doch ist das ein Freispruch für Woyzeck? Nicht schuldig? Der Täter ist nichts weiter als selbst ein Opfer?

Christoph Müller, Niclas Wetzel v. l.

An dieser Stelle könnte eine weniger direkte Form der Zuspitzung mehr erreichen. Hingegen war die Idee mit einer in vielen Szenen wiederholt auftauchenden Figur gut. Eine vom Publikum mit großem Beifall honorierte Erscheinung, die mit ihrem Äußeren an Fritz Langs „Nosferatu“ erinnert, spielt am Ende den Händler. In Büchners Zeiten war das meist der „Jude“.

Musikalische und visuelle Höhepunkte

Eine weitere Assoziation kommt auf: eine groteske Gestalt, die in der Literatur und in einer christlichen Volkssage eine Hauptfigur ist und als Ahasver, der wandernde oder ewige Jude, bezeichnet wird. Aus dem Programmheft konnte man nichts darüber erfahren. Samuel Sandriesser als Tambourmajor zeigte Schauspiel vom Feinsten. Diese Figur ist insofern wichtig, weil sie die Not Maries und damit ihr Verhalten erklärt.

Szene mit Michael Pempelforth (vorn) als Doktor, Bruno Akkan, Fritz Manhenke, Joshua Dahmen, Aicha-Maria Bracht, Luca-Noél Bock

Die kompositorische Komponente der Aufführung, die Musik und das Spiel am Harmonium und Klavier von Philip Fischkorn, war großartig. Ebenso Angela Requena Fuentes am Schlagzeug, die auch als Sängerin sehr überzeugte. Durch die von Robi Voigt ausgezeichnet gestalteten Video-Sequenzen bekam die gesamte Inszenierung einen filmischen Charakter.

Annotation

„Woyzeck“ von Georg Büchner. Schauspiel Leipzig. Regie: Enrico Lübbe, Bühne: Etienne Pluss, Kostüme: Bianca Deigner, Video: Robi Voigt, Musikalische Konzeption: Philip Frischkorn, Dramaturgie: Torsten Buß, Licht: Jörn Langkabel, Live-Kamera: Robert Gotthardt, Videotechnik: Fabian Polinski, Ton: Gregory Weis, Nico Teichmann, Udo Schulze, Inspizienz: Ute Neas, Soufflage: Philine von Engelhardt, Regieassistenz: Lukas Leon Krüger, Bühnenbildassistenz: Carolin Schmelz, Kostümassistenz: Maryna Ianina, Maske: Kathrin Heine, Donka Donka Holeček, Cordula Kreuter, Julia Markow, Barbara Zepnick, Requisite: Sven-Sebastian Hubel, Bühnenmeister: Julius Besen, Tilo Münster, Ausstattungshospitanz: Carolina Imhof, Theaterpädagogische Betreuung: Amelie Gohla, Nele Hoffmann

Besetzung

Christoph Müller als Woyzeck, Bettina Schmidt als Marie, Tilo Krügel als Hauptmann, Michael Pempelforth als Doktor, Wenzel Banneyer als Andres, Thomas Braungardt als Andres (alternierend), Samuel Sandriesser als Tambourmajor, Paula Winteler als Margreth, Niklas Wetzel als Wanderer, Bruno Akkan, Luca-Noél Bock, Aicha-Maria Bracht, Joshua Dahmen, Fritz Manhenke, Emmeline Puntsch als Seminar des Doktors / Wirtshausgesellschaft. Statisterie:Carolin Hain, Charlotte Krauspe, Damian Reuter, Fabian Schwitter Greta Wach, Kirsten Wilkner

Live Musik – Klavier/Harmonium: Philip Frischkorn, Schlagzeug: Angela Requena Fuentes

Premiere und besuchte Vorstellung 27.4.2024; veröffentlicht 29.5.2024

Credits

Text: Petra Kießling, freie Theaterkritikerin, Leipzig

Foto: Rolf Arnold

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