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Leipzig: Theater zum Anbeten

Leipzig: Theater zum Anbeten

Wiederaufnahme „Der Reigen. Ein überausschönes Lied vom Tod“ von Christoph Bochdansky und anderen im Westflügel Leipzig

Das den Tanz an sich und insbesondere in Leipzig feiernde Festival euro-scene ist seit wenigen Tagen erst Geschichte, da untermauert bereits wieder das Figurentheaterzentrum Westflügel mit der Wiederaufnahme von „Der Reigen“ in Anwesenheit der legendären Choreografin Rose Breuss den Glaubenssatz: Leipzig tanzt! 

Von Moritz Jähnig

Der Kasper in einer Szene aus „Der Reigen“

Ein Raum mit Geschichte

Die Inszenierung des Figuren- und Tanztheaterstücks „Der Reigen“ ist ein komplexes theatralisches Erlebnis, bei dessen Werden die unterschiedlichsten Elemente mitwirken. Bei einer Beschreibung muss man mit dem unbeschreiblich schönen Raum beginnen, in dem das Spiel stattfindet, obwohl er nicht die Hauptrolle hat. Durch einen spärlich erleuchteten Flur, über die knartsende Stiege hinauf, wieder durch zwei derbwandige Werkhallentüren hinein in den Saal im ersten Stock, mit seiner hohen Decke, den ausgebesserten Wänden, einem riesigen, verrammelten Fenster. Er ist eine Remise, in der die Geschichte ihre Spuren geparkt hat – ein Bunker für Zeit, ein Indiz, dass es im Theater immer ums Ganze geht, ohne dass ein endgültiges Resultat herauskommt. 

Ein Totentanz voller Leben 

In Erwartung der platznehmenden Zuschauer stehen auf einem Podest in der linken Ecke die Musiker Charlotte Wilde und Stefan Wenzel. Eng an die Wand gelehnt sitzen auf schmalen Pagenbänken rechter Hand die beiden Puppenspieler Christoph Bochdansky neben Michael Vogel und in Front zu den Zuschauern sitzen die drei Tänzerinnen und Tänzer Marcela Lopez Morales, Kai Chun Chuang und Damian Cortes Alberti. Ruhe tritt ein. Der Reigen, ein bereits im Frühmittelalter üblicher Rundtanz, zu dem gesungen wird, kann beginnen. 

Der im Westflügel-Saal aufgeführte Reigen ist „Ein überaus schönes Lied vom Tod“. Ein Danse Macabre in neun Strophen, von der ersten „geheimnisvoll“ bis zur letzten „Da Capo“, jede mit einer eigenen Tempoangabe. Geheimnisvoll dreht sich das Rad des Lebens. Von der Decke wird ein dort hängendes Fahrrad-Vorderrad herabgelassen, an dem symbolische Figuren wie eine Knochenhand oder ein Tier baumeln. Durch Lichtführung ziehen diese vagen Gestalten als übergroße, düstere Schatten an den vernarbten Wänden des Saals entlang, während sich die Tänzer zu einer schrägen, ihre Unfertigkeit inszenierenden Musik unten in Gegenrichtung im Kreis bewegen. 

Szene aus „Der Reigen“

Dann fallen von der Decke Skelettteile aus Plüsch auf die tanzenden Wesen. Sie spielen damit, setzen sie neu und immer anders zusammen und zeichnen das Grauen der Totentanz-Vorstellung nach.

In der Inszenierung senkt sich vieles von oben nieder. Genial geführt fegt eine Totenmaske als Luftgeist durch den Raum. Ein Tanz mit dem Totenkopf. 

Szene aus „Der Reigen“

Der Totenkopf, in welcher Gestalt er hier auch immer auftritt, hat nichts Grausiges. Er ist ein lachender Dritter, eine Karikatur. Selbst bei der Guillotinierung des Pierrot durch den Kasper umhüllt der Mantel aus Komik die tiefe Tragik des Gesagten. 

Theater als grenzenlose Kunstform 

Tanz und Gesang, Schattentheater und Clownerie, Puppenspiel, animierte Gegenstände, Ventriloquistik und Symbolik – alle Theaterformen sind handwerklich bruchlos verbunden. In der besuchten Vorstellung zauberte Regisseur Zufall ein weiteres Kunststück auf die Bühne: Wegen einer Unterbrechung, ausgelöst durch einen technischen Ausfall bei der Musik, mussten die Darsteller schwere vier Minuten extemporieren. Spontan bezogen Michael Vogel und Marcela Lopez Morales aus der Szene heraus das Publikum ein. So entwickelte sich ein Mini-Stegreifspiel von höchster Kunstfertigkeit. 

Lachen und Leben: Die Botschaft des Totentanzes 

Es mag ein gepflegtes Klischee sein, den Wienern eine Affinität zu allem Makabren nachzusagen. Die enge Verbindung zu dieser etwas anderen Lebenshaltung in Wien und Österreich ist in der Gemeinschaftsproduktion „Der Reigen“ spürbar. Die Schreckgestalten dieses Totentanzes rufen nicht zu sittsamer Läuterung, sondern zu Achtsamkeit im Leben. Lachen und Singen erleichtern unser Schicksal, den Tod ertragen zu müssen. 

Annotation

„Der Reigen. Ein überaus schönes Lied vom Tod“. Live-Musik für Figuren- und Tanztheaterstück über den Tod Christoph Bochdansky (Wien), COV Compagnie Off Verticality (Linz), Figurentheater Wilde & Vogel (Leipzig), in Koproduktion mit dem Westflügel Leipzig.

Choreographie: Rose Breuss, Tanz: Kai Chun Chuang, Damian Cortes Alberti, Marcela Lopez Morales, Live-Musik: Protect Laika (Stefan Wenzel, Charlotte Wilde)

Uraufführung 2020; Premiere 3.6.2021; besuchte Vorstellung 14.11.2024; veröffentlicht 15.11.2024 14:35; aktualisiert 16.11, 1:17

Credits

Text: Moritz Jähnig, freier Theaterkritiker, Leipzig

Foto: © Dana Ersing

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