Shakespeares „Romeo und Julia“ am Schauspiel Leipzig verhandelt das Wesen der Liebe
32 Charaktere nennt der Besetzungzettel von William Shakespeares wohl berühmtesten Drama „Romeo und Julia“. In ihrer Bühnenfassung benötigt Regisseurin Pia Richter sieben Darsteller für essentielle Figuren. Was wird verhandelt? Das Wesen der Liebe. Nicht weniger, aber auch nicht mehr.
Von Moritz Jähnig
Tragik auf Bubble-Gum-Basis
Die Szene auf der Großen Bühne beherrscht ein überdimensionaler pinkfarbener Teddy-Bär. Könnte auch ein gespenstisch groß geratenes Gummibärchen sein. Auf jeden Fall hat Bühnen- und Kostümbildnerin Julia Nussbaumer im wörtlichen Sinne ein Spielzeug für die Schauspieler, vier weibliche, drei männliche, ersonnen. Auf diesem Teddy-Berg steigen sie wie beim Climbing hinauf und hinab, lassen sich in seine Öffnungen gleiten. Aus einem langen Schlitz in Teddys runden Bauch können die Leute aus Verona herausklettern und oder -schauen. Der Teddy wird auf dem Maskenball der Capulets bei Skroboskop-beleuchtung zum Diskotisch oder später wahlweise zum Garten, zur Gruft usw. Auch die legendäre Balkonszene spiel auf Bärchens breiten Armen.
Die Musik übernimmt einen wichtigen Erzählpart. Als Zuschauer muss man genug popkulturelles Bewußtsein mitbringen und die Zitate zu dekodieren wissen. Dann ist man beim Witz dabei.
Es gibt einen Kostümwechsel, der einen Bruch in der Inszenierung markiert. Im ersten Teil stecken wir mit den Schauspielern in der großen bunten Bubble des Lebens. Der zweite Teil setzt ein, wenn die romantische Liebe ihr zerstörerisches Werk beginnt. Dann taucht sie in ein mystisches Lila. Über das Wesen der romantischen Form der Liebe ist in den überaus klugen Essays im Programmheft Wissenswertes zu erfahren.
Eigentlich ist es kompletter Irrsinn, was uns William Shakespeare in seiner 1597 erschienen Tragödie „Romeo und Julia“ zumutet. Zwei sich innig liebende Menschen kommen nicht nur nicht zusammen, sie löschen sich aus, nur weil die Welt ist wie sie ist. 1597! Aber, Hand auf’s Herz, auch heute ist das genauso zu befürchten. Es ist eine bewährte Methode, sich dem Horror mit Lachen zu nähern, um ihn ertragen und verstehen zu können. Pia Richters Fassung des unverwüstlichen Stoffes könnte ihren Ausgangspunkt in solchen Überlegungen genommen haben.
Alle agieren. Wie verrückt
Eine andere Antwort auf die Gretchen-Frage: „Warum machen die das so?“ wäre, von einer Kapitulation der Inszenierung vor diesen quasi archetypischen Figuren auszugehen. Sie sind von solcher Vielschichtigkeit, dass es vieler Stimmen braucht, um sie zeitgenössisch zu verstehen.
Was auch immer der Grund dafür sein mag, diese Idee des permanenten Perspektivwechsels ist der Hauptschlüssel zum Verständnis der Inszenierung. Es gibt nicht d e n einen bedauernswerten Romeo und nicht d i e eine zarte Julia, die der Nachtigall zu lauschen glaubt, sondern ein komplettes Julia-Kollektiv aus Menschen unterschiedlichen Alters, verschiedenen Temperaments und diverser sexueller Orientierung. Es ist amüsant zu verfolgen, wie verrückt alle miteinander agieren und aneinander vorbeireden. Wo der ursprüngliche Text weggelassen oder chorisch gesprochen wird, machen Slapstick und Clownerie den Handlungsfaden weiter deutlich.
Wo einerseits eine Vielzahl von Figuren in dieser Fassung aus dem Stück gestrichen worden sind, baut sich Pia Richter auch eine neue hinzu. Sie gibt der bei Shakespeare textlosen Rosalinde, einer dramaturgisch unbedeutenden Freundin Julias, etwas zu sagen und reichert das Spiel mit weiteren unterhaltsamen Momenten an. Mit solchen Kunstgriffen werden die Konflikte der klassischen Liebenden auf unsere Lebenswelt heute übertragbar gemacht, die nichts mit den gesellschaftlichen Beziehungen anno 1597 zu tun hat.
Ist dem so? Beruht das existenzielle Erschrecken bei unserer persönlichen „Romeo und Julia“-Lektüre nicht darin, dass wir eine Ahnung bekommen, wie wenig sich strukturell geändert hat? Es schon, nur mal am Rande bemerkt, verwunderlich, dass die Tragödie kein Schulstoff in Deutschland ist.
Als Fazit darf festgehalten werden, dem Bühnenwirbel interessiert gefolgt zu sein und am Wortwitz und den vielen komödiantischen Momenten Freude gehabt zu haben. Einschränkung: Wer unglüchlicherweise nicht auf x „Romeo und Julia“-Inszenierungen in früheren Zeiten zurückblicken kann, erlebt mit Pia Richters Sicht weniger Freunde, auch weniger Freude an der Dichtung William Shakespare. Denn um die geht es doch auch. Der Zuschauer muss den Text schon mehr als nur etwas kennen. Dann wird ihn alles in noch größerem Maße erfreuen.
Annotation
„Romeo und Julia“, von William Shakespeare. Aus dem Englischen von Sven-Eric Bechtolf und Wolfgang Wiens. Schauspiel Leipzig, Große Bühne. Regie: Pia Richter, Bühne & Kostüme: Julia Nussbaumer, Musik: Friederike Bernhardt, Johannes Cotta, Licht: Ralf Riechert, Dramaturgie: Marleen Ilg. Besetzung: Paulina Bittner, Thomas Braungardt, Anne Cathrin Buhtz, Patrick Isermeyer, Roman Kanonik, Dirk Lange, Teresa Schergaut
Besuchte Vorstellung Premiere 15.10.2022, veröffentlicht 23.10.2022, weitere Termine: 28.10. 19:30
Credits
Text: Moritz Jähnig, Theaterkritiker und Herausgeber, Leipzig
Fotos (4): © Rolf Arnold
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