Mirko Mahr erzählt ein ergreifendes Tanzstück zu Prokofjews Ballettmusik
Wenige Tage vor Beginn des internationalen Tanzfestivals „Euro-Scene“, das vorzüglich avantgardistische europäische, in diesem Jahr erstmals auch außereuropäische Tanzpositionen im daran gemessen bescheidenen Leipziger Kosmos zeigt, tut es wohl, sich an die in dieser Region gewachsene Formtradition zu erinnern. Das mit einem Besuch des Tanzstückes „Romeo und Julia“ an der Musikalischen Komödie zu tun, war kein verkehrter Gedanke
Von Moritz Jähnig.
Den Ballettabend „Romeo und Julia“ verlässt der Zuschauer mit jenem gewissen Hochgefühl, gerade bei einem ganz besonderen Ereignis zugegen gewesen zu sein. Man war Zeugin oder Zeuge und irgendwie mit beteiligt an einem Spiel, in dem die große Liebe zwischen zwei jungen Menschen (Shakespeares Julia ist 14 Jahre!) von irrationalem Hass zerstört.
Die Musik zu Sergej Prokofjews 1934 in Brünn uraufgeführten Ballett ist von zeitloser Modernität und eine große Herausforderung für jedes Orchester. Avantgardistisch kann man sie nicht direkt nennen. Prokofjew scheint sich kompositorisch in allem zurückgenommen zu haben. Lange hatten politische Kräfte die Fertigstellung und Aufführung der Komposition in der Sowjetunion verhindert, weil sie von „seltsamer Orchestrierung“, „häufigen Rhythmuswechseln“ und „unzähligen Unannehmlichkeiten“ charakterisiert sei, wie die Presse schrieb. Kurz, die Story bietet mit keinem Happy End.
Und in der Tat: Romantik und Liebe drücken sich in diesem Werk durchaus harmonisch aus, wenn auch unter allem wohlig Heiteren wie ein maschinelles Stampfen liegt, eine klangliche Unruhe, die auch aggressiv die Grenze zur A-Tonalität berührt. Josep Caballé Domenech führt die Damen und Herren des Muko-Orchesters, die anerkanntermaßen gemeinsam einen spezialisierten Klangkörper für die Show und Robert Stolz bilden, nach anfänglichen Koordinierungsschwierigkeiten zu einem klaren, sich nie verwirrenden Spiel, das die großen Gefühlswogen der von vornherein tragischen Handlung ernst nimmt, aber nicht pathetisch verklärt. Statement reiht sich an Statement. In jedem wird die gefahrvolle Grundierung hörbar. Die Musik hilft möglicherweise besonders den jungen Zuhörern, der Handlung bewusster zu folgen. Berechtigt erscheinen beim Schlussapplaus alle Damen und Herren des Orchesters auf der Bühne und nehmen den anhaltenden, geradezu jubelnden Beifall entgegen.
Bejubelte Tänzerleistungen
In der besuchten Vorstellung agierte das gesamte Ensemble ausgewogen und spielfreudig. Will man die Leistungen in einzelnen Szenen hervorheben, dann bleiben die intensiven Kampfszenen die die männlichen Parteigänger der verfeindeten Familien in „Westside-Story“-Manier austragen, im Gedächtnis haften. Es tanzten und gestalteten Mercutio Mattia Cambiaghi (Mercutio), Daniel Castillo Cisneros (Tybald) und Stephen Budd (Benvolio). Auf dieser machtgierigen Seite des fast schon klischeehaft vereinfach präsentierten gesellschaftlichen Spektrums gehört auch Graf Paris, von Nicola Miritello als eitler, liebesunfähiger Gockelmann überzeugend eingefangen.
Und im emotionalen Gegensatz zu dieser aggressiven Macho-Rasanz die „Balkonszene“ voller Momente frischer, gefühlsechter Nähe zwischen den Liebenden. Da ist zu allererst eine zickige, höchst heutige mädchenhafte Julia, von Jimena Banderas Martinez entzückend quirlig getanzt. An ihrer Seite ein starker Sympathieträger-Romeo wie aus dem Bilderbauch von Claudio Valentim.
Mahr führt zum besseren Verständnis der Shakespeareschen Handlung (und sicher auch um des Tempos willen, die Aufführung dauert nur zwei Stunden) zwei Sprechfiguren ein: die Amme, von Sabine Töpfer als eine witzelnde komische Alte vom Typ Cindy von Marzahn total uneitel angeboten, was absolut aufgeht und dem Stückerfolg dient und Pater Lorenzo, den Michael Raschle zelebriert.
In den Rollen Graf Capulet, Alexey Pancheshin, Gräfin Capulet, ihren Verlustschmerz als Mutter expressiv herausschleudernd Marta Borczakowska, Gräfin und Graf Montague, Corina Dehne und Montague Özgür Tuncay, den Fürsten von Verona gestaltete Karl-Heinz Gohl.
Der Bühnenraum, in dem das Tanzstück erzählt wird, ist einfach und praktikabel, entworfen von Frank Schmutzler. Die beiden Veroneser Aristokratenfamilien leben auf einem runtergekommen Rummelplatzt. Sie sind in einen vorwiegend modernen Kostümmix gekleidet. Norbert Bellen hat ihn zusammengestellt. Er kennzeichnet unaufdringlich die soziale Stellung und das Lebensalter seiner Träger.
Analoges Theater ungebrochen
Die finale, sich im Schlussapplaus manifestierende Gemeinsamkeit nach dem Spielerlebnis, die schon eingangs hervorgehoben wurde, ist das charakteristische Moment für das Theaterkonzept im Haus Dreilinden.
Das Programmheft verrät, dass die Arbeit am Ballettabend „Romeo und Julia“ an der Musikalischen Komödie 2013 begann. Inzwischen zog Corona übers Land und veränderte das Publikum und das Theater. Die Gesellschaft erlebt noch immer einen zuvor ungeahnten Grad der Digitalisierung, auf allen Gebieten, auch in der Musik- und Tanztheaterproduktion.
Es soll jetzt nicht die in diesem Zusammenhang wichtige Frage diskutiert werden, ob im Versammeln des zwar räumlich separierte, jedoch technisch interaktiv ausgestatteten Publikums im digitalen Raum jener Ursinn Theater realisiert, das Max Reinhardt Gemeinschaft nannte. Es fällt nur auf, dass eine Inszenierung, die sich 2022 an eine digitalisiert lebende Jugend wendet, auskommt, ohne die Digitalisierung an irgendeiner Stelle zu thematisieren. Sie pappt eine Art social media-Statusmeldung am Prospekt an und gut. Im folgenden Spiel ist das einzig vorkommende Medium der alte, gute, handschriftlich verfasste Brief, der dann im Ernstfall seinen Empfänger nicht erreicht.
Unglaublich. Mirko Mahrs „Romeo und Julia“ kommt ohne Videoprojektionen und Virtual-Reality-Headset aus. Einfach eine Geschichte zu erzählen, ist auch das Grundprinzip der Choreografie. Ob nun eigener Ballettabend oder eingebaut in andere Inszenierungen, Mirko Mahr schafft „Tanzstücke“.
Noch ein Gedanke in diesem Zusammenhang: Spielt bei dem erlebten Erfolg der Aufführung auch der Theaterraum eine Rolle? Das Theater Musikalische Komödie, inzwischen mehrfach saniert und überformt, entstand als Bau 1913 als Varieté für die Unterhaltungsansprüche des gehobenen und weniger gehobenen Bürgertums. Hier lohnt es sich weiterzudenken.
„Tanzstücke“ sind ein bescheideneres Wort für das was sie im kleinen wie großen gattungsmäßig sind: Handlungsballette. Also Stücke, in denen mit Tanz eine fortlaufende Geschichte erzählt wird. Damit steht der Ballett-Chef der Muko in einer Reihe mit den ebenfalls Geschichten erzählenden Choreografen Irina Pauls, Arila Siegert, Enno Markwart, Harald Wandtke, Mario und Silvana Schröder, Birgit Scherzer und andere. Das Verbindungsglied für Miko Mahr zu dieser „Schule“ ist Dietmar Seyffert, der ihn als Tänzer an das Ballett der Leipziger Oper holte und der, sowohl einer Gret Palucca und wie einem Tom Schilling verpflichtet, in Leipzig choreografierte und in Berlin unterrichtete.
Innerhalb des Tanzfestivals „Euro-Scene“ wird das Leipziger Ballett am 13.11.2022 den Ballettabend „Marin/Schröder“ mit Choreografien der Tänzerin Maguy Marin und von Mario Schröder zur Premiere bringen. Sie folgt einer bemerkenswerten, wieder anderen Leipziger Traditionslinie im Tanztheater, was für die viel zu wenig herausgestellte Breite auf den Bühnen der Stadt spricht. Es wäre angebracht, hier mal „großfrässiger“ zu sein, wie der Sachse gern sagt.
Annotation
„Romeo und Julia“. Ballett in vier Akten von Mirko Mahr nach William Shakespeare, Musik von Sergej Prokofjew. Musikalische Leitung: Josep Caballé Domenech, Choreografie: Mirko Mahr, Bühne Frank Schmutzler, Kostüme Norbert Bellen, Dramaturgie Christina Geißler, Ballett und Orchester der Musikalischen Komödie. Besetzung: Julia Sara Cornelia Brandão / Jimena Banderas Martinez, Gräfin Capulet Marta Borczakowska, Amme Sabine Töpfer, Gräfin Montague Corina Dehne, Romeo Claudio Valentim, Mercutio Mattia Cambiaghi, Tybalt Daniel Castillo Cisneros, Benvolio Stephen Budd, Graf Paris Denys Popovych / Nicola Miritello, Graf Capulet Alexey Pancheshin, Pater Lorenzo Michael Raschle / Justus Seeger, Graf Montague Özgür Tuncay
Credits
besuchte Vorstellung: 22.10.2022; veröffentlicht: 23.10.2022; weitere Vorstellungen: 12.11.2022, 19.00 Uhr, 13.11.2022, 15.00 Uhr
Text: Moritz Jähnig, freier Theaterkritiker und Herausgeber, Leipzig
Foto (2): © Kirsten Nijhof
Handyfoto: Autor
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