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Leipzig: Die mörderische Enge

Leipzig: Die mörderische Enge

Erste Inszenierung von Brittens „Peter Grimes“ am Opernhaus

Nach „Don Giovanni“ (Matthias Foremny/Katharina Thoma) im Januar, „Giulio Cesare in Egitto“ (Rubén Dubrovsky/Damiano Michieletto) im April ist „Peter Grimes“ (Christoph Gedschold/Kay Link) die dritte gelungene und so stürmisch wie lange nicht erlebt bejubelte Premiere der unter das thematische Motto Außenseiter gestellten Spielzeit im Opernhaus Leipzig.

Von Moritz Jähnig

Brenden Gunnell als Peter Grimes am Opernhaus Leipzig

Brenden Gunnell als Peter Grimes am Opernhaus Leipzig

Benjamin Brittens „Peter Grimes“ ist zweifellos eine der bemerkenswertesten Opern des 20. Jahrhunderts. Das Werk, das im Jahr 1945 am Sadler’s Wells Theatre in London uraufgeführt wurde, hat sich als Meilenstein der Opernliteratur etabliert. Es beeindruckt bis heute durch seine musikalische Brillanz, tiefgründige Handlung und packende Charakterisierung. Am Leipziger Opernhaus ist „Peter Grimes“ unfassbarer Weise jetzt zum ersten Mal im Spielplan.

Die Oper basiert auf einem Gedicht von George Crabbe und erzählt die Geschichte des gleichnamigen Fischers, der in einem kleinen Küstendorf namens „The Borough“ in England lebt. Die Handlung konzentriert sich auf Grimes‘ verzweifelte Versuche, sich als Zugezogener in der dörflichen Gesellschaft zu integrieren, während er mit Vorurteilen, Misstrauen und seinen inneren Dämonen kämpft, aber auch Momente von Freundschaft und Unterstützung erlebt. Letztendlich scheitert er an der kollektiven Ablehnung und sucht dem letzten freundschaftlichen Rat folgend den Tod auf See.

Das Thema Außenseiter

Diese Ablehnung und Isolation, die Grimes in der Opernhandlung erfährt, spiegelt Brittens eigene Erfahrungen als homosexueller Mann wider. Obwohl Britten zu der Zeit, als er „Peter Grimes“ komponierte, eine öffentlich anerkannte Beziehung zu seinem Partner Peter Pears hatte, war Homosexualität in England illegal. Britten suchte und fand in seiner Musik Wege, persönliche Erfahrungen und Emotionen auszudrücken, und „Peter Grimes“ wird oft als metaphorische Darstellung von Britten selbst als Außenseiter interpretiert.

Die Oper thematisiert unverstellt die zeitlosen Fragen nach Vorurteilen, Mobbing, Ausgrenzung und dem Druck der Gesellschaft. Diese Themen waren für Britten während seiner gesamten Karriere von Bedeutung, da er sich als Künstler für Gerechtigkeit und soziale Veränderungen einsetzte. In welchem Gewand sich diese Fragen heute, unter vorgeblich komplett veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen einer „offenen Gesellschaft“ in Erscheinung treten, bleibt der Zukubft und künftigen Inszenierungen an der Oper Leipzig, vorbehalten.  In dieser Inszenierung stellt Regisseur Kay Link die Homosexualität als eine Form des Außenseitertums besonders und vor dem sozialen Außenseitertum herhaus. Link, der sich auch selbst als Autor mit queeren Bühnencharakteren beschäftigt hat, wählte einen reiferen Jüngling, der dem Tadzio-Typ in der schwulen Ikonographie entspricht, für die Rolle des stummen Waisenjungen aus, den sich der Fischer, wie damals üblich als Arbeitskraft, gekauft hatte. In einem visionären Bild stellt der Regisseur dem Mann, Peter Grimes, die helfenden Beziehungen zu einem anderen Mann und einer Frau, Ellen Orford, gleichberechtigt an die Seite stellen. Dieses szenisch zaghaft aufleuchtende Modell zur Überwindung festsitzenden gesellschaftlichen Ächtung macht die Dissonanz, in der die Oper mit einem chorischen agressiven Geschrei endet, noch ergreifender.

Zur Idee eines möglichen Überwindens des Außenseitertums ist die Position des ja in Leipzig an der Enge des DDR-Sozialismus der 50er Jahre gescheiteren Literaturwissenschaftlers, Juden und Homosexuellen Professors Hans Mayer aufschlussreich. Er hat in seinem 1975 verfaßte Essay „Außenseiter“ Frauen, Juden und Homosexuelle in ihrem historischen Außenseitertum untersucht. Zur Zeit beim Suhrkamp Verlag vergriffen.

Mörderisch triste Enge der Dorfgesellschaft

Die Inszenierung von „Peter Grimes“ erfordert eine sorgfältige Balance zwischen Intimität und epischer Breite. Dafür gibt sich der meerblaue Bühnenraum von Dirk Becker auf geniale Art minimalistisch. Drei Stapel Europaletten, ein Dutzend Holzstühle, transparente Folienvorhänge, aufblasbare Fantasiefische, dazu Bühnentechnik pur.

Auf verschiedenen Projektionsflächen an wechselnden Standorten werden Videos (Tilman König) projiziert. Sie illustrieren Handlung und Musik. Die Fischfangszene im 1. Akt meint mit Bildern von der industriellen Fischverarbeitung veranschaulichen zu müssen. Das bleibt allerdings alberner Mainstream pur. Womit schon der überflüssigste Moment der gesamten Inszenierung von Kay Link genannt ist.

Die düstere Atmosphäre des Küstendorfes und die sozialen Spannungen werden auf der Bühne zum Ausdruck gebracht. Das Bühnenbild malt weniger die raue Schönheit der Küste aus. Sie fängt die triste Enge des Dorfes ein und trägt entscheidend zum Gesamterlebnis bei.  Auch die unaufdringlich heutigen Kostüme von Silke Wey lassen den Zuschauer in die Welt von Grimes einzutauchen und den Zuschauer die Konflikte und Emotionen der Charaktere hautnah bis schmerzvoll zu erleben.

Das erleichtert auch der Umstand, dass quasi nach alter Felsensteinscher Schule jede einzelne Chor-Figur sorgfältig individuell gezeichnet mit“spielt“. Auch die Solisten sind fein und erkennbar charakterisiert. Wobei die Miss Murple-Figur der Mrs. Sedly (Kathrin Göring) sich auf der Muko-Bühne noch weit vorteilhafter ausnehme.

Gewandhausorchester, Chor, Solisten – eine Einheit

Benjamin Britten war ein herausragender Komponist, der es verstand, Musik mit einer starken emotionalen Resonanz zu schaffen. „Peter Grimes“ ist ein perfektes Beispiel für seine meisterhafte Handwerkskunst. Die Musik ist vielschichtig, expressiv und intensiv, und Britten nutzt eine breite Palette von Stilen und Techniken, um die Stimmung und die Charaktere zum Leben zu erwecken. Von den düsteren Klängen der Meeresbrandung bis hin zu den lyrischen Arien, die die inneren Kämpfe der Figuren widerspiegeln, ist die Partitur von „Peter Grimes“ ein wahres Meisterwerk.

Die Charaktere sind tiefgründig und facettenreich gezeichnet, und es gelingt meisterhaft, ihre Emotionen und Konflikte widerzuspiegeln. Brenden Gunnell als Grimes ist ein zerrissener Held, dessen dunkle Seite und fragile Psyche faszinierend darstellt. Sein reiner tenoraler Klang adeln den zu physischer Gewalt neigenden Fischer. Gunnell verkörpert stimmlich und mit starker körperlicher Präsenz wahrhaftig die zentrale, titelgebende Figur. Wenn der Tenor auf dieser eigentlich ständig leeren großen Bühne singt, ist diese schicksalhafte, ausweglose Situation anpackend da.

Ihm zur Seite weitere starke Solisten. Martina Welschenbach als Ellen groß in der Hoffnung und sich schwer enttäuscht fühlend, der starke Freund Bastrode von Tuomas Pursio, die lebenskluge Wirtin Karin Lovelius – alle auf ausgeglichen hohem Niveau. „Peter Grimes“ ist eine Choroper. Was auch dieser dreistündige Abend in Leipzig dank des von Thomas Eitler-de Lint vorbereiten Klangkörpers bewies. In ihrem umwerfenden Schlussauftritt erreicht der Chor im Zusammenklang mit dem von Christoph Gedschold geführten Gewandhausorchester eine so selten erlebte und unvergesslich bleiben werdende Intensität.

Nachsatz

Manchmal verlässt man nach Premieren ein Opernhaus auch mit dem Gedanken, was würde Schostakowitsch oder Wagner oder Lortzing oder jeder andere Tonsetzer über die erlebte Wiederaufführung seines Werkes jetzt denken. Das bleibt immer spekulativ. Der Pazifist Benjamin Britten wäre aber mit Leipzig – obwohl so verzögert herausgebracht – zufrieden und würde sich zusammen mit seinem Peter Pears Karten für einen weiteren Vorstellungsbesuch sichern. Best idea ever.

Annotation

“Peter Grimes”, Oper in einem Prolog und drei Akten (1945) von Benjamin Britten, Libretto von Montagu Slater.

Musikalische Leitung Christoph Gedschold , Inszenierung Kay Link, Bühne Dirk Becker, Kostüme Silke Wey, Video Tilman König, Licht Stefan Jennerich / Michael Röger, Choreographie Oliver Preiß, Dramaturgie Marlene Hahn / Kara McKechnie, Choreinstudierung Thomas Eitler-de Lint / Alexander Stessin, Chor der Oper Leipzig, Gewandhausorchester zu Leipzig

Besetzung: Peter Grimes Brenden Gunnell, Ellen Orford Martina Welschenbach, Balstrode Tuomas Pursio / Mathias Hausmann, Auntie Karin Lovelius, 1. Niece Dalia Besprozvany, 2. Niece Jessica Leão, Boles Sven Hjörleifsson / Dan Karlström, Swallow Randall Jakobsh, Mrs. Sedley Kathrin Göring, Pastor Adams Álvaro Zambrano / Einar Dagur Jónsson, Ned Keene Jonathan Michie, Hobson Marcel Brunner, Der Junge (stumme Rolle) Jonathan Walldorf / Oskar Wangemann.

Besuchte Vorstellung: Premiere 13.05.2023; veröffentlicht 14.05.2023; aktualisiert 15.05.; weitere Termine 20.05.; 31.05.; 03.06.; 16.06.

Credits

Text: Moritz Jähnig, freier Theaterkritiker und Herausgeber, Leipzig

Fotos: © Kirsten Nijhof

Scenenfotos

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