Enrico Lübbe befüllt ein beunruhigendes Märchen mit großer Ruhe.
Wilhelm Hauffs “Das kalte Herz“ als April-Premiere auf der Großen Bühne. Das Weihnachtsmärchen in diesem Jahr schon am Ostersonntag? Wohl kaum. Leipzigs Intendant macht Ernst mit dem gern im Munde geführten Spruch, Märchen seinen für die großen Menschen. Der schwäbische Literat Wilhelm Hauff war zu seiner Zeit ein wichtiger und umtriebiger Dichter.
Von Moritz Jähnig
Heute ist der zu seiner Zeit breit aufgestellte Dichter, der Satiren verfasste und seine literarischen Berührungspunkte mit Schiller, Voltaire, Wieland, Tieck oder E.T.A. Hoffmann hat, dank seiner Märchen wie „Zwerg Nase“, „Kalif Storch“ und vor allem dem 1827/28 erschienenen „Kalten Herz“ bekannt. Hauff rückt als nicht ganz Harmloser im Zusammenhang mit den Verfilmungen seiner Romane, dem unseligen „Jud Süß“ von 1940 mit Heinrich George ins diskursive Gespräch oder dem westdeutsch biederen “Das Wirtshaus im Spessart“ von 1957 mit der heiteren Liselotte Pulver.
Auch „Das kalte Herz“ wurde mehrfach verfilmt. Die Regie nimmt diese Filmnähe ganz bewusst auf, wenn sie die Bühne im Schauspielhaus leuchtend einrahmt und der Zuschauer so ein bisschen Kinoleinwand-Illusion geschenkt bekommt. Bühnenbildnerin Etienne Pluss, die in Leipzig bei „Winterreise“ mit Enrico Lübbe zusammenarbeitete, stellt einen phantastischen Schwarzwald auf die finster leuchtende Drehbühne. Nebel und fahles Schimmern (Licht Jörn Langkabel), Moos, dann aber auch ein paar Wandlampen an den dicken Baumstämmen, die ein naturalistisches Entrücken voll brechen. Die aufwendigen Kostüme von Bianca Deigner stricken mit an diesem optischen Überwältigungsstrategie, von der sich Klein und Groß gern an die Hand nehmen lassen. Mag das Märchen auch verstörend sein, es wird ganz ruhig und erzählt.
In Hauffs Werken werden eigene Lebensthemen wie sozialer Aufstieg und Sturz, Will kür der Herrschenden in literarische Themen transformiert. Das macht die Märchen so beunruhigend. Der vaterlose gewordene Kohlenbrenner Peter Munk, der für die alte Mutter dasein muss, erträumt sich mehr für sein Leben, als er hat und je bekommen wird. Allen andern geht es besser. Die Glas- und Uhrenmacher haben im Wirtshaus stets die Taschen voller Geld. Der Kohlenmunk-Peter gehört nicht dazu. Seine Unzufriedenheit mit dem Stand, in den er hineingeboren wurde, führt bei ihm zu immer mächtiger werdenden Wünschen. Die führen ihn schließlich zum Schatzmännlein im dunklen Tann, das ihm, Peter, als einem Sonntagskind, drei Wünsche zu erfüllen bereit ist. Der Zauberspruch, der Peter zu dem guten Geist Schatzmännlein führt, ist das eigentlich Erbe von Peters Vater.
Aber die Wünsche Peters sind undurchdacht und töricht. Das Glasmännlein geht nicht mit. Der Kohlenbrenner Peter wendet sich daraufhin an den Holländer-Michel, einen skrupellosen Geist und grausamen Geschäftemacher. Dieser Unhold tauscht das warme menschliche Herz Peters gegen einen Stein aus. Und eins, zwei, drei hat Peter alles, was sein Steinherz begehrt: stets die Taschen voller Geld, eine Glasfabrik und seine Liebste kann er heiraten. Aber er weiß mit den neuen Gaben nichts anzufangen. Seine große Erkenntnis: alle die großen Namen im Tal haben ihr Herz beim Holländer-Michel hinterlegt. Wenn er im zweiten Teil des Märchenstücks allem überdrüssig aus der weiten Welt in das enge Schwarzwaldtal zurückkehrt, wünscht er sich nur eins: sein menschliches Herz wieder zurück. Das mitleidige Glasmännlein verrät Peter, mit welchem Trick ihm das gelingen kann. Die Motive des Glasmännleins, dem törichten Peter doch zu helfen, sind Liebe und Gemütskräfte. Der hohe Wert der Gemütskräfte sind im heutigen Denken verlorengegangen. Aber letztlich es ist es Mut, der Peter dem Rat annehmen und den Schritt zur Veränderung erfolgreich tun lässt.
So siegt das Gute, wie es sich für ein Märchen gehört. Das ist aber auch in nuce die ethische Botschaft des märchenerzählenden Theologen Wilhelm Hauff und der Leipziger Inszenierung: Plädoyer für Mut, zur Menschlichkeit im gesellschaftlichen Umgang zurückzukehren.
Zwei Momente aus den durchweg hervorragenden schauspielerischen Angeboten seinen herausgestellt:
Erster Moment: das verwandelte Gesicht des Peter-Darstellers Denis Grafe, wenn er aus der weiten Welt zurückkommt. Es ist wie erstarrt. War er erst ein zappliger junger Kerl, haben ihn Heimatferne und Reichtum vereist. Es ist als knirsche Schnee, wenn er sich bewegt.
Zweiter Moment: Szenen in denen Peter mit dem großspurigen und doch von innerer Hilflosigkeit geprägten Ezechiel (Christoph Müller) und dem gefallsüchtigen Tanzboden-König (Denis Petković) auf dem Boden sitzt und die Männer sich klar werden, dass sie alle ihre Herzen versetzt haben.
Tilo Krügel spielt das Glasmännlein und führt auch durch das Stück. Wenzel Banneyer ist ein brutaler schrecklicher Holländer-Michel, Michael Pempelforth spielt Munks Sohn, über den sich entsprechend der Hauffschen Philosophie die Geschichte sinnbildlich fortsetzen wird. Merle Hillmer, auf dem Kopf bekrönt mit einer großen Schäppel, trippelt unauffällig durch das Bild. Das ist hier ok. Frauen gehören nicht zu Hauffs Märchenpersonal.
Die schwer in Worte zufassende Faszination, die von dieser Inszenierung ausgeht und die die Zuschauer mitnehmen, ist nicht zuletzt der live performten Bühnenmusik von Philip Frischkorn zu danken. Frischkorn läuft um den kleinen, vor dem Bühnenportal stehenden Flügel spielt und schlägt und zupft hochkonzentriert die Seiten des Instruments – Klänge, die die Szenen virtuos beflittern.
Sehr wirkungsvoll auch die auf die Bühne projizierten Aufnahmen der Live-Kamera Tim Pathe und die Videos von Kai Schadenberg.
ANNOTATION
„Das kalte Herz“ von Wilhelm Hauff Spielfassung Enrico Lübbe, Thorsten Buß. Schauspiel Leipzig, Große Bühne. Regie: Enrico Lübbe, Bühne: Etienne Pluss, Kostüme: Bianca Deigner, Live-Musik, Musik / Komposition: Philip Frischkorn, Live-Kamera: Tim Pathe, Dramaturgie: Torsten Buß, Licht: Jörn Langkabel
Besetzung: Denis Grafe als Peter Munk, Tilo Krügel als Glasmännlein, Wenzel Banneyer als Holländer-Michel, Christoph Müller als Ezechiel / Wanderer, Michael Pempelforth als Schlurcker / Wanderer / Kutscher / Peter Munks Sohn, Denis Petković als Peter Munks Vater / Tanzboden-König / Wanderer, Merle Hillmer, Anaya Hubach als Lisbeth (Gesang)
Premiere und besuchte Vorstellung: 17.04.2022; veröffentlicht 23.04.2022
KONTAKT zum Herausgeber
Wollen Sie künftig informiert werden, wenn auf Kunst und Technik eine neue Rezension erscheint, schreiben Sie mir Ihre Kontaktdaten. Sie erhalten zeitgleich bis auf Widerruf kostenlos eine Informations-E-Mail. Adresse: blog@moritzpress.de
CREDITS
Foto (3): © Rolf Arnold
Text: Moritz Jähnig, Musik- und Theaterkritiker Leipzig, Herausgeber