Patrick Bialdygas vollständiger „Lohengrin“ an der Oper Leipzig
Norman Heinrichs Bühnenbild ist schon beim Pflicht-„Lohengrin“ für die mit dem Großprojekt „Wagner22“ endende Intendanz von Prof. Ulf Schirmer ein Beitrag zu den Nachhaltigkeitsplänen von dessen Nachfolger Tobias Wolff. Das liegt auch ein bisschen an der Pandemie.
von Roland H Dippel
Katharina Wagner warf im Herbst 2020 und dann wieder im Januar 2022 das Handbuch zu ihrer lange angekündigten Inszenierung der romantischen Oper ihres Urgroßvaters Richard Wagner an der Oper Leipzig. Also sollte Patrick Bialdyga sein kurz vor dem zweiten großen Lockdown in Windeseile dem Haus am Augustusplatz abgetrotzten Fragment mit dem Orchester auf der Bühne und 65% der Gesamtlänge eilig auf Originalformat bringen. Das vervollständigte Resultat hatte am 26. März Premiere, geplant sind insgesamt fünf Vorstellungen bis Juni und drei im Herbst 2022. Das Haus wirkte in der dritten Vorstellung zu etwa 50% besetzt und jubelwillig.
Die ganze Bühne war in tiefem Himmelblau: An den weißen Schwan in der Glaskugel erinnerte man sich ebenso wie an die drei langen Tische zum Sich-darunter-Verstecken, Darauf-Paradieren und zum Konferieren der Krisenstäbe. Platz nehmen König Heinrich, der blinde Kläger Telramund und die zugunsten ihrer Interessen mit dem Heerrufer kopulierende Ortrud – O-Ton Wagner: Ein „Weib, das die Liebe nicht kennt.“ Die Bühne dreht sich – schön später die einsame Braut Elsa in vollem weißen Schmuck auf sonst leerer Fläche. Und es gibt weiße Vorhänge für Raumzellen und Privatmächtiges. Roy Böser und Jennifer Knothe teilten sich die Arbeit an den wenigen Kostümen: Attraktiver Hosenanzug für die Intrigantin Ortrud, dazu generell Anzüge und Casuals in einer entzaubernden Bühnengegenwart. Der Gralsritter Lohengrin schaut weniger nach Glanz und Wonne aus denn nach Landpfarrer und Pferdeflüsterer.
Der Chor ist zu Silhouetten auf einem Podest hinter Gittern verbannt, tritt sonst nicht auf und bleibt außer zum heftigen Atmen bewegungslos. Zum Glück vertraut Thomas Eitler-de Lint mehr dem eigenen musikalischen Können als dem Konzept. Mag sein, dass der Chor keine Aktionen liefert, wie Bialdyga das erläutert. Aber die Massen machen bei Wagner derart Druck, dass Elsa sich immer knapp vorm Verlieren ihres Gesichts behaupten muss. Auch zeigte Wagner, das ein König manchmal auch Diener seiner Untertanen ist. Das haben Peter Konwitschny in seinem Klassenzimmer-“Lohengrin“, der Leipziger Vorgänger-Produktion, und Joan Anton Rechi in der Oper Chemnitz differenzierter, poetischer, dringlicher entwickelt. Aber Norman Heinrichs Bühnenbild passt für fast alle Opern, die Schirmer der Reihe nach aus dem Repertoire nehmen ließ – und viele weitere von „Boris Godunow“ über „Karl V.“ bis „Lucrezia Borgia“, sogar „Undine“…
Christoph Gedschold, ab 2022/23 zum Musikdirektor der Oper Leipzig, dirigierte die Premiere. Auch in dieser Vorstellung merkt man, wie er das milde und in Wagners Schaffen einmalige Schimmern in dramatische Kontexte des vom Tondichter mittelalterlich fabulierten Macht- und Religionsgerangels stellen will. Bei den Bläsern gelingt es, einige Streicherläufe geraten verhuscht. Erstaunlich, wie intensive Premieren-Vorbereitung nach so kurzer Zeit in einer recht guten und doch wenig glanzvollen Repertoireleistung aufgeht. Oder handelt es sich um eine gut verständliche Wagner-Frühjahrsmüdigkeit als verständlicher Gewandorchester-Reflex vor dem gigantischen Aufbäumen zu Prof. Ulf Schirmers Finale mit „Drei Wochen Unendlichkeit“ vom 20. Juni bis 14. Juli?
Bis sich Gottfried (Mario Großer), ein Elite-Milchgesicht mit vielen Möglichkeiten für politische Wunschprojektionen, die Herrschaft von Brabant übernehmen soll, gibt es vor allem eine sängerdarstellerische Glanzleistung: Kathrin Göring ist eine detailstarke Ortrud mit satter Deklamation und eindringlichem Spiel – ein konditionierter wie starker Mezzo mit starker Tendenz Richtung Zwischenfach-Sopran. Görings kaltes Feuer hätte durch eine ebenbürtige Gegenspielerin und wissendere Elsa – Annette Dasch etwa – zu noch größerem Gleißen und Reiben kommen können. Ihr Bühnen-Gatte Telramund war stimmlich mehr ein Wotan beim inneren Rückzug nach Walhall als ein zähnefletschender zu kurz Gekommener: Tuomas Pursio hat ab kommender Spielzeit endlich wieder viel in Leipzig zu tun, unter anderem einen „Don Giovanni“. Ihm ähnlich an Autorität und Stimmfarbe wirkt der in Jena geborene Andreas Bauer Kanabas. Einen Lohengrin mit viel heldischem Metall und ökonomischer Wunderwärme ist Martin Muehle. Zuverlässig singt Gabriela Scherer eine Elsa in eher pauschalen Nöten. Schade, dass Martin Häßler trotz der sexuellen Übergriffe Ortruds einen Heerrufer mit wenig Testosteron gibt. Insgesamt geriet der dritte „Lohengrin“ innerhalb von zwei Wochen zu einer schnörkellosen Wagner-Hommage, die der eigenen Phantasie viel Freiraum gibt und im Juni garantiert Festspielweihen erhalten wird. Der Jubel am Ende wirkte sehr ehrlich und ermunternd.
ANNOTATION
„Lohengrin“. Romantische Oper in drei Aufzügen. Text und Komposition von Richard Wagner. Oper Leipzig. Musikalische Leitung Christoph Gedschold, Inszenierung Patrick Bialdyga, Bühne Norman Heinrich, Kostüme Roy Böser, Kostüme Jennifer Knothe, Licht Stefan Bolliger, Video Bernd E. Gengelbach, Einstudierung Chor Thomas Eitler-de Lint, Chor der Oper Leipzig, Komparserie der Oper Leipzig, Gewandhausorchester
Mitwirkende: König Heinrich: Andreas Bauer Kanabas – Lohengrin: Martin Muehle – Elsa: Gabriela Scherer – Telramund: Tuomas Pursio – Ortrud: Kathrin Göring – Heerrufer: Martin Häßler – Gottfried: Mario Großer – Vier brabantische Edle: Alvaro Zambrano, Einar Gdagur Jónsson, Voncent Wilke, Jean-Baptiste Mouret
WAS NOCH?
Premiere 20.03.2022, besuchte Vorstellung 10.04.2022, veröffentlicht 13.04.2022
Weitere Vorstellungen: 24.04., 17 Uhr, 20.11., 17 Uhr, 25.11., 18 Uhr, 10.12., 18 Uhr
Weitere Wagner-Termine:
20.06. – 14.07.2022 Festtage der Oper Leipzig “Wagner 22”. Alles 13 Opern Richard Wagners werden in der Geburtsstadt des Komponisten in der Reihenfolge ihrer Entstehung zur Aufführung gebracht. Das gesamte Programm auf https://www.oper-leipzig.de/de/wagner22
Im Rahmen von „Wagner 22“ ist auch zum bisher letzten Mal die Leipziger „Ring“-Inszenierung zu erleben: „Rheingold“ 07.07., 17 Uhr, „Walküre“ 08.07., 17 Uhr, „Siegfried“ 09.07., 17 Uhr, „Götterdämmerung“ 10.07, 17 Uhr . Karten an der Opernkasse, unter Tel. 0341 261261 oder auf www.oper- leipzig.de
CREDITS
Foto (3): © Kirsten Nijhof
Text: Roland Dippel, freier Musik- und Theaterkritiker