„Das ÜZ“ greift zum Buch und präsentiert „Ein Mann seiner Klasse“
Es hat ja Zeiten gegeben, wo Zoodirektoren Menschen fremder Kulturen in Käfige steckten und diese dann dem gemeinen Volk präsentierten. Solche Shows werden heute aus guten Gründen verachtet, mehr noch, Meinungsmacher verurteilen damalige Aufklärer aufs Schärfste, und die Diskussionen laufen heiß von Pinkert bis Brehm, bis hin zu Karl May. Und doch bleibt der Mensch jeder Weltgegend von Kulturen anderer Weltgegenden fasziniert, schreibt Bücher über dortige Lebensweisen, macht Urlaub in der Fremde und Fotos. Manch einer maßt sich von Anzug bis Haar fremde Kultur einfach an.
Ein bissel solch Feeling hat der geneigte Hinseher nun in der Halle D vom Werk II. Das Kollektiv um „Das ÜZ“, welches das Kulturleben Leipzigs seit 2011 bereichert, zeigt auf dem Boden ehemaliger Maßproduktion den Aufstieg eines Arbeiterkinds aus dem Pfalzwald-Prekariat.
Format der Vorlage
Die Text-Vorlage lieferte Christian Baron über sich selbst, dessen – ja was? Schüleraufsatz, Roman, Reportage, Biografie, Selbstportrait? – von Christian Hanisch und Johann Christoph Awe bühnentauglich umgeschrieben wurde. Jetzt kann das Theaterpublikum der Kindheit und Jugend des Assi-Kindes ansichtig werden. Schlimm, schlimm: Vater säuft. Mutter kränkelt. Essen aus Dosen oder verkocht. Vater schlägt. Mutter liebt. Mutter stirbt. Krebs: furchtbares Leiden. Lehrerin hält Gymnasium für möglich. Amt hält Jungen für bildungsunfähig. Tante kämpft. Junge studiert. Vater stirbt, und auf seinem Grab steht kein Kreuz.
Wir sind ob dieser unteren Lebensgeschichte ehrlich erschüttert, dabei könnte sie auch genauso in den hiesigen Brennpunkt-Bezirken spielen. Man müsste sich nur mal hinbewegen, hin schauen und hinhören in den Schulen an Rande der Stadt, bei den Tafeln, im Arbeits- und im Jugendamt und vor dem Bahnhof sowieso. Aber, versteht sich, aufs tatsächliche Elend gucken, tut weh. Assi-Watching auf offener Bühne ist schmerzfrei und auf Distanz, es riecht besser und macht kein ungutes, sondern ein bess‘res Gefühl. Ja, ja, man nimmt das soziale Elend zur Kenntnis und schaut drauf und weiß, dass es diese Lebensumstände gibt. Aber angesichts dieser Bühnenvorführung fragt sich der Zuseher beängstigt: Sieht man hier nicht wie weiland bei den Völkerschauen Menschen mit fremder Kultur einfach zu?
Beeindruckende Spielhaltung
Abgesehen von diesen Kultur- und Elendsdiskussionen, theatral hat der Abend vieles zu bieten. Die Textbearbeitung lotet die dramatischen Momente des Buches gut aus. Die beiden Darsteller – Jennifer Demmel und Armin Zarbock – wechseln die Rollen, das Alter, die Orte, ohne dass der Lebensfaden zerreißt, und verausgaben sich sprachlich wie körperlich exzellent – sehr beeindruckend. Die wenigen Requisiten, ein Doppelstockbett, mehrere Kissen, zwei Mützen, paar Zettel und Magnete vermögen stets wieder neue Geschichten glaubhaft zu nachzuerzählen – grandios. Jakob Seidels Live-Musik unterstützt wohltönend das Aufgeführte und macht das kulturelle Umfeld deutlich von Bette Midler bis Volkslied, von Walzerrhythmus bis Zahnputzgeräusch – überraschend. Die Inszenierung von Christian Hanisch ist ein gutes Stück Theater – Applaus ganz zurecht.
Nachsatz
In Leipzig ist’s Mode, dass die Theater wie der Bibliothekar immer wieder nur fragen: Welches Buch hätten’s denn gern? Kein Buch! verdammt nochmal, weder Dostojewski, Johnson oder Meyer, weder Stelling, Juli oder Zeh: Die Bühne braucht Stücke und keine noch so schön aufbereitete Belletristik!
Annotation
„Ein Mann seiner Klasse“. Bühnenstück nach dem Roman von Christian
Baron
von DAS ÜZ in einer Fassung
von Christian Hanisch und Johann Christoph Awe; Regie Christian Hanisch, Dramaturgie Johann Christoph Awe, Assistenz
Marthe Gappert, Produktion Susann Schreiber
Spiel Jennifer Demmel und Armin Zarbock, Musik Jakob Seidel
Gefördert vom Fonds Darstellende Künste aus Mitteln der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien im Rahmen von NEUSTART KULTUR.
Premiere 17.03.2023; besuchte Vorstellung 18.03.2023; veröffentlicht 19.03.2023
Credits
Text: Henner Kotte, freier Theaterkritiker und Autor Leipzig
Foto: © Mathias Schäfer
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