„Anatevka“ in der MuKo und die Kommentare zu Zeit
In dem 1964 am Broadway uraufgeführten, mit neun Tony Awards ausgezeichneten Kult-Musical begleiten mitreißende Tanzszenen und großangelegte Shownummern Momente eines Vaters, dessen Träume und Hoffnungen zutiefst berühren. Aber auch die aktuelle Zeitgeschichte spielt mit.
Von Henner Kotte
Tragisch sind Geschichten, die „Der Fiedler auf dem Dach“ über das Schtetl „Anatevka“ erzählt: „Tevje, der Milchmann“, wünscht sich für seine fünf Töchter nichts weiter als Glück und bittet die Heiratsvermittlerin um Vermittlung. Nur liebt seine Große nicht den ihr zugewiesenen Fleischer. Die zweite folgt einem Revoluzzer in die sibirische Verbannung. Die dritte findet ihren Mann außerhalb der religiösen Gemeinde. Und bei den beiden Jüngsten scheitert bereits die Eheanbahnung. Es kommt für Tevje noch schlimmer als die Privatkatastrophen: Alle Juden müssen Anatevka verlassen, die Russen sehen das Fleckchen Erde als allein ihnen gehörig und säubern es von allem Fremden. Die Ausgewiesenen zerstreuts über die Welt.
Die Parallelen des Musicals zum Zeitgeschehen sind offensichtlich. Pausenlos rattern Meldungen und Kommentare der Nachrichtenredaktionen und erreichen das geschockte Publikum aller Kanäle. Ohne zugelassene Fragen erkennt man die Haltung der verantwortlichen Redakteure. Der stimmt man zu oder auch nicht. Aber so schwarz/weiß wie suggeriert, ist weder das Geschehen zu deuten noch sind es die Meinungen der Bürger. Und noch nie war es möglich, die Fragen der Zeit mit einem einfachen Ja oder Nein zu beantworten. Man muss drüber reden, doch wer von vornherein Recht hat, lässt Diskussionen nicht zu. Das rächt sich, beweisen Umfragen und Wahlen. Jetzt gibt die Musikalische Komödie ihren Kommentar zur Zeit, und das tut sie beeindruckend: abwägend, deutlich, künstlerisch wertvoll.
Die Geschichten um „Tevje, den Milchmann“ von Scholem Alejchems fußen auf eigenem Erleben des Autors und damaligen Politikgeschehen. Die Erzählungen wurden von 1905 bis 1914 veröffentlicht, und noch bevor sie gesammelt erschienen, sah man sie auf Theaterbühnen und in Filmen. 1964 nahmen sie Joseph Stein (Buch), Jerry Bock (Musik) und Sheldon Harnick (Lyrics) zur Grundlage ihres Musicals „Der Fiedler auf dem Dach“, das heute zu den meistgespielten weltweit gehört. Handlung und Charaktere bieten immer wieder Ansätze für Neuinterpretationen. So auch in der Inszenierung von Cusch Jung. „Für jüdische Krim-Flüchtlinge wurde 2014 nahe Kiew das Dorf Anatevka gegründet, das viele im Ukraine-Krieg wieder verließen.“
Milchmann Tevje steht nie außerhalb des Bühnengeschehens, und so ist er unbestritten Dreh- und Angelpunkt der Handlung. Milko Milev ist Tevje und zeigt dessen väterliche Zerrissenheit ohne Mitleid zu heischen sprachlich, gesanglich und körperlich sehr nuanciert. Um ihn ein Ensemble, das ob seiner Geschlossenheit beeindruckt, darunter die Leipzig vertrauten Stimmen von Angela Mehling, Nora Lentner, Sabine Töpfer, Jeffrey Krueger und Michael Raschle. Alle weiteren Solisten seien als kollektive Einheit genannt. Choreografisch füllen sowohl Ballett, Chor und Statisterie jeden Winkel des verschachtelten Schtetls, so das das Geschehen auch alle Bretter und Türen bespielt. Bühnenbild und Kostüme von Karel Spanek lassen Assoziationen zu, die weit über Tevjes Geschichte hinausgehen vom Schtetl des „Jüdischen Glücks“ hin zu den Pelzen des „Dr. Schiwago“, von Albert Steinrücks Rabbi Löw hin zu Rudolf Asmus als Tevje in Walter Felsensteins DDR-Inszenierung, von Gebrüder Grimms armen Schneider hin zu schrecklichen Ghetto-Berichten. Faszinierend ist, dass der Zuschauer immer die Gegenwart mitdenkt, ohne sie vorgekaut serviert zu bekommen. Das unterscheidet die Inszenierung wohltuend von allwissenden Meinungsmachern.
Der Taktstock von Tobias Engeli entlockt dem Orchester leiseste Töne bis hin zu den Welthits „Wenn ich einmal reich wär“ und „Ist es Liebe?“ Sven Probst steht als „Fiedler auf dem Dach“ bis sich alle Akteure in die Welt zerstreut haben. Die Bühne bleibt leer.
Bis sie sich zum euphorischen Applaus wieder füllt. Das Bravo gilt jedem der vielen Mitwirkenden. Ehrlich. Warum aber schlussendlich das beeindruckte Publikum zum operettenhaften Mitklatschen gezwungen wird, widerspricht dem geschichtlichen Ende und der gezeigten Haltung.
Annotation
„Anatevka – Der Fiedler auf dem Dach“. Buch von Joseph Stein, Musik von Jerry Bock, Gesangstexte von Sheldon Harnick, Musikalische Komödie Leipzig.
Musikalische Leitung Tobias Engeli / Florian Kießling; Inszenierung Cusch Jung; Choreografie Mirko Mahr; Bühne und Kostüm Karel Spanhak; Dramaturgie Kara McKechnie; Choreinstudierung Mathias Drechsler; Chor der Musikalischen Komödie; Extrachor, Ballett der Musikalischen Komödie; Komparserie der Oper Leipzig; Orchester Orchester der Musikalischen Komödie
Besetzung: Golde: Angela Mehling; Zeitel: Olivia Delauré; Hodel: Nora Lentner; Chava: Maria Hammermann; Bielke: Mara Flock / Livia Vitagliano / Elisabeth Martin; Sprintze: Mila Flock / Alma Lutz / Hanna Andersson; Jente: Sabine Töpfer; Schandel: Martina Wugk-Kratz; Fruma-Sarah: Sabine Töpfer; Oma Zeitel: Konstanze Haupt / Martina Mühlnikel; Tevje: Milko Milev; Mottel Kamzoil: Jeffery Krueger; Perchik: Peter Kubik / Justus Seeger; Lazar Wolf: Michael Raschle; Motschach: Roland Otto; Wachtmeister: Günter Schoßböck; Rabbi: Radoslaw Rydlewski; Fedja: Stephen Budd; Sasha: Tobias Latte; Avram: Peter Waelsch; Mendel: Mathias Möller; Nachum: Holger Mauersberger; Ein Russe: Einar Dagur Jónsson; Fiedler: Sven Probst
Premiere 11.02.2023; besuchte Vorstellung 12.02.2023; veröffentlicht 13.02.2023
Cedits
Text: Henner Kotte, freier Theaterkritiker und Autor, Leipzig
Fotos: © Kirsten Nijhof
Kontakt
Wollen Sie künftig informiert werden, wenn auf Kunst und Technik die nächste Rezension erscheint? Dann schreiben Sie uns bitte Ihre Kontaktdaten. Sie erhalten bis auf Widerruf kostenlos eine Informations-E-Mail. Adresse: blog@moritzpress.de
Szenenbilder