Mutige Inszenierung einer polnischen Oper von 1926 im aktuellen Kontext aufgeheizter gesellschaftlicher Debatten in der Slowakei
So brandaktuell kann ein Regiekonzept im Kern aktueller gesellschaftlicher Debatten aufschlagen: Seit langem stand fest, dass Regisseur Anton Korenči am Štátne divadlo Košice (Staatstheater Kaschau) den Schwerpunkt seiner Inszenierung von „König Roger“ auf die Biographie ihres Komponisten Karol Szymanowski und dessen Beziehung zu dem von ihm in vier Gedichten vergötterten Boris Kochno widmen sollte.
Von Roland H. Dippel
Dann kam der 12. Oktober 2022 mit dem Mord an zwei jungen Schwulen durch den Sohn eines nationalkonservativen Politikers vor einer LGBTQ-Bar in Bratislava und dem kollektiven Aufschrei darauf. Unter der Aktion www.slovenskateplaren.sk rief eine Großzahl von Veranstaltern aller Sparten vom 12. bis zum 27. November zur Solidarität mit den Hinterbliebenen der Opfer auf.
In den letzten zehn Jahren verstärkte sich das repressive Klima gegen queere Lebensformen in der Slowakei. Deshalb war das Karol Szymanowskis schwulen biographischen Hintergrund in deutliche Bilder zwingende Konzept des Staatstheaters Kosice schon im Planungsstadium vor vielen Monaten brisant. Auch in der Rezeption seines Heimatlandes Polen wird die Homosexualität Szymanowskis wie die Chopins, also der beiden Nationalkomponisten, radikal negiert. Der Intendant eines mitteldeutschen Theaters übernimmt für die Spielzeit 2023/24 das Konzept einer polnischen Regisseurin, das an einem polnischen Opernhaus aufgrund der sexuellen Orientierung ihres Komponisten vor kurzem nicht herauskommen durfte.
Langfristig geplant, aktuell brisant
Das Musikdrama „Král Roger“ war ein langfristiges Wunschprojekt von Operndirektor Roland Khem Tóth und Dramaturg Stanislav Trnovský . Bei der Pressekonferenz nach der Generalprobe am 22. November wurde durch den Hinweis auf die Mitwirkung bei www.slovenskateplaren.sk indirekt auf die Brisanz von Werk und Wiedergabe aufmerksam gemacht. Der performative Klage- und Empörungsschrei setzte nach dem Mord am 12. Oktober eine mehrheitliche und für die Slowakei ungewöhnlich offene Solidarität mit queeren Lebensformen frei. Bei der Premiere gab es einhelligen Applaus.
Das für die 1926 im Warschauer Teatr Wielki uraufgeführte Oper unerlässliche Riesenorchester agierte auf der Hauptbühne. Demzufolge rückte das mit wenigen Art-Déco-Stücken ausgestattete Spielgeschehen unter das Portal. Zwei Corbusier-Sessel, wenige erlesene Ausstattungsstücke und eine imposante Treppe in den Orchestergraben genügten zur Darstellung einer Welt am Abgrund (Bühne: Ondrej Zachar). Nach der lebhaft umjubelten „Roger“-Premiere verdrängte die Mehrheit des Publikums trotzdem den dramatischen Ausdrucksgehalt, indem sie das erotische Geschehen „nur“ als poetische Metamorphose einer kollektiven Regeneration betrachtete. Diese Deutung wurde ermöglicht, weil weder im Textbuch von Jarosław Iwaszkiewicz noch in der Musik eine Kritik an der Kirche zu erkennen ist (großartige Leitung des Chors, der Extra- und Kinderchöre).
Edel-Eklektizismus der Komposition
In der Oper geht es – frei nach den ins mittelalterliche Christentum versetzten „Bacchantinnen“ von Euripides – um die Sprengung eines Staatswesens durch einen zu Enthemmung und Selbsterlösung aufrufenden fremden Hirten. Bezeichnenderweise hätte Regisseur Anton Korenči eine Produktion von „Die Bacchantinnen“ des Heterosexuellen Egon Wellesz lieber als die Oper Szymanowskis inszeniert. Dessen dezidiert wagnerferner Edel-Eklektizismus spricht tonmalende Bände. Man erlebte in Kosice das hochfeudal-großbürgerliche Comingout Rogers so eindringlich wie das Leid der ihr Frausein immer krampfhafter ausstellenden Königin Roxane und Rogers Faszination für eine verführerische Schattenfigur (André Tatarka). Zu dieser treibt ihn ein Seelenklempner mit Geduld und Notizblock (Maksym Kutsenko als Gelehrter Edrisi).
Schon während der byzantinischen Sakralhymnen im ersten Aufzug treffen sich Rogers und die Blicke eines blutjungen Mannes. Der alsbald im weißen Anzug nahende Hirt ist ein Verführer für Männer, Frauen und die sinnliche Regungen hinter Brillengläsern bändigenden Chormassen. Zur fast tänzerischen Vergewaltigung geraten die Szenen, in denen der Hirt Roger auf dem Corbusier-Sessel um- und verschlingt, später diesen mit einem vampirischen Kuss auf den Nacken zur Findung der eigenen Identität vergewaltigt. Nur zwei Vorstellungen waren am 23. und 25. November angesetzt, eine Aufführungsserie für Abonnements nicht vorgesehen. – Eindrücklich wurde Königin Roxane als Marionette repräsentativen Frauseins vorgeführt. Schon im Prolog hat sie ihr erotisches Terrain restlos verloren. Roxane presst sich in Korsage, Perücke, Schmuck und versucht so mit verzweifelter Energie das Unwiederbringliche zu retten. Boris Hanečka modellierte dazu panzernde Kostüme. Auch Roxane findet durch den Hirt Erlösung. Befreit bricht sie auf und aus, überlässt Roger geläutert sich selbst.
Sternstunde der Sängerdarsteller
Dirigent und Chormeister Peter Valentovič gelang das Kunststück, Szymanowskis rauschhaften, epischen und pittoresken Oberflow fast impressionistisch minimierend aufzufächern. So ermöglichte er der sehr lyrischen, dabei mit brennender Intensität und sehr nah am Sujet agierenden Protagonisten-Trias eine Sternstunde. Zuvorderst der erst 24-jährigen und eindrucksvoll das Belcanto-Firmament ansteuernden Sopranistin Gabriela Hrženjak bei ihrem Bühnendebüt. Ihre Erfolgslinie nach oben zeichnet sich bereits deutlich ab. Der sonst im italienischen Fach beheimatete Tenor Juraj Hollý stattet den Hirten mit mediterranen wie männlich verspielten Farben aus. Der in Bremen engagierte Bariton Michał Partyka leistete mit kerniger Lyrik und Mut zu darstellerischer Deutlichkeit einen szenisch-erotischen Totaleinsatz, als ginge es um Himmel und Hölle. Bezwingend suggestiv geriet diese dramatische Bändigung des maßlosen Inhalts. Erotische Hochspannung und Körperlichkeit fielen nie in übersättigende Exaltation. Ein großartiger Abend, dessen essenzielle Bilder vom Publikum zwar wahrgenommen, aber nicht diskutiert wurden. Mit einem solchen Anspruch als Sprachrohr gegen ein antihumanes Ambiente hat Oper wirklich Relevanz.
Credits
Text: Roland Dippel, freier Theaterkritiker, Leipzig/München; erstveröffentlicht in Neue Zeitschrift für Musik; 28.11.2022, hier in vom Autor überarbeiteter Neufassung mit freundlicher Genehmigung; hochgeladen 2.12.2022
Foto: © Autor
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