Nationaltheater Košice ehrte Bedřich Smetana zum 200. Geburtstag
Die dreiaktige Oper „Dalibor“ des tschechischen Komponisten Bedřich Smetana hat eine bewegte und bewegende Werkgeschichte. 1868 im Novoměstské divadlo (Neustädter Theater) in Prag anlässlich der Grundsteinlegung des Nationaltheaters Prag uraufgeführt, singt die tragische Liebesgeschichte unüberhörbar das Lied von Freiheit und Unabhängigkeit. In dem Sinne hatte auch das Prager Nationaltheater nach Niederschlagung des Prager Frühlings“ 1968 „Dalibor“ nach längerer Abstinenz wieder auf den Spielplan gesetzt.
Von Roland H. Dippel
Ein fast vergessenes Jubiläum
Der 200. Geburtstag des Nationalkomponisten Bedřich Smetana (1824 bis 1884) bleibt eine weitgehend auf dessen Heimatland Tschechien begrenzte Hommage. Bedauerlich ist das weniger für seine beliebte Oper „Verkaufte Braut“ als für Smetanas kaum geläufige Werke wie „Das Geheimnis“, die lyrische Komödie „Zwei Witwen“ und den als historisches Krawallstück verkannten „Dalibor“.
Konzertante Erinnerung in der Slowakei
„Dalibor“ gelangte am 22. Juni am Nationaltheater Košice in der Slowakei zur konzertanten Aufführung. Peter Berger und Eliška Weissová glänzten in den herausfordernden Hauptpartien als Liebespaar Dalibor und Milada. Tomáš Hanus zelebrierte die sensible Nationaloper mit Feinschliff, Tiefgang und hohem Melos.
Entstelltende Aufführungsgeschichte
Die entstellende Aufführungsgeschichte von „Dalibor“ begann bald nach der Uraufführung am 16. Mai 1868 im Prager Interimstheater (Neustädtisches Theater). Schon Gustav Mahler kürzte in Wien das monumentale Werk und dessen rauschhaften Sog um 50 Minuten. Solche manipulativen Eingriffe waren bis weit ins 20. Jahrhundert und noch später die Regel.
Historisches Theater mit wechselvoller Tradition
Das erste ständige Theater der Stadt entstand 1788 an der Stelle des mittelalterlichen Rathauses. In diesem Haus fanden 500 Zuschauer Platz. Zuerst wurde ausschließlich auf Deutsch gespielt, ab 1816 auch auf Ungarisch. Dieses Theatergebäude musste 1894 aus Sicherheitsgründen geschlossen werden.[1]
Das heutige Theatergebäude wurde 1897–1899 nach einem Projekt der ungarischen Architekten Adolf Láng und Antal Steinhardt gebaut und am 28. September 1899 feierlich eröffnet. Im Sinne der damaligen Kulturpolitik im ungarischen Teil von Österreich-Ungarn spielten hier nur ungarisch-sprachige Theatergesellschaften.
Erst nach der Entstehung der Tschechoslowakei im Jahr 1918 kamen slowakische bzw. tschechische Schauspieler. Nach der Gründung des Slowakischen Nationaltheaters in Bratislava war die nationale Theatergesellschaft vor allem in den Sommermonaten in Košice zu Gast. Schließlich begann 1924 der Betrieb des Ostslowakischen Nationaltheaters (slowakisch: Východoslovenské národné divadlo).
Das Ostslowakische Nationaltheater stellte 1930 den Betrieb aus finanziellen Gründen ein. Das Theatergebäude wurde saisonal von Theatergesellschaften aus Olmütz und Bratislava bespielt. Erst 1937 gelang die Gründung einer Filiale des Slowakischen Nationaltheaters in Košice. Mit der Eingliederung der Stadt in Horthys Ungarn endete auch diese Filiale.
Nach der Wiederherstellung der Tschechoslowakei im Jahr 1945 entstand das neue Ostslowakische Nationaltheater. Neben Schauspiel baute man die Sparten Oper und Ballett auf.
Das Theatergebäude wurde 1987–1994 umfassend saniert. Am 1. Mai 2023 wurde es nach jahrelangen Bestrebungen in Nationaltheater Košice umbenannt.
Quelle: wikipedia.org
Das vielschichtige Libretto
Das Libretto stammt von Josef Wenzig, die tschechische Fassung von Ervín Špindler. Dem Libretto liegt die Geschichte des böhmischen Ritters Dalibor von Kozojedy um 1498 zugrunde. Legendär ist die Textbuch-Situation. Bis zu seinem Lebensende war Smetana nicht ganz sattelfest im Tschechischen – also der Sprache des Landes, dessen Nationalkomponist er wurde. Das in deutscher Sprache verfasste Textbuch von Josef Wenzig vertonte Smetana trotzdem in der tschechischen Übersetzung Ervín Špindlers. Rückübersetzungen von Max Kalbeck für Mahler, dann im kalten Krieg Kurt Honolkas für den Westen ließen offen, ob es sich beim vom Raubritter Dalibor umschwärmten, aber bereits vor Beginn der Oper toten Zdenek um einen ‚Waffenbruder‘ oder ‚warmen Bruder‘ handelt.
Fragen zur Interpretation
Sogar in Prag machte man im frühen 20. Jahrhundert die pantomimische Schlüsselfigur, welche Dalibor unter Streicher- und Harfenrauschen erscheint, vom Freund zum weniger verfänglichen Vater. Fragen über Fragen: Warum übertrug Smetana im hymnischen Liebesfinale des zweiten Aktes das musikalische Material um Zdenek auf die in Männerkleidern (!) Dalibor seine Geige in den Prager Hungerturm bringende Milada? Und warum denkt Dalibor vor der Auslieferung an die königlichen Schergen noch immer an Zdenek, während Milada an einer Verwundung in der Schlacht stirbt?
Umstrittene Neuinterpretationen
Das Libretto-Gezerre setzte sich fort bis 2020: Oscar-Preisträger Miloš Forman gab seine Neufassung von „Dalibor“ für Prag 2000 unter Druck konservativer Opernanhänger auf und nannte diese Sisyphus-Arbeit einen „blutigen Sport“. Eine halbe Stunde Musik wollte Forman streichen, also blieben noch immer 105 Minuten von Smetanas „überwältigender Partitur“. „O Janko, könnt’ ich ans Herz dich pressen, der Kerker wär’ mir ein Wonnesaal!“ schwelgt Dalibor in Wenzigs Originaltext, welcher aufgrund Smetanas Vertonung der Übersetzung nicht kompatibel mit der Musik ist.
Zwei mögliche Auffassungen
Kein Dilemma, aber heikel: Es kann also nur zwei konsequente „Dalibor“-Interpretationen geben. Entweder Dalibor ist im transzendenten Sinne von Jean Genet und Michel Foucault schwul – oder der ferne Freund Zdenek ist eine Allegorie der Freiheit und der Musik. Im zweiten Fall hätten diejenigen recht, welche das tschechische Musikmonument „Dalibor“ als epigonale Antwort auf Beethovens „Fidelio“ (Frau befreit Mann aus Kerker) und Wagners „Lohengrin“ (Held aus „Glanz und Wonne“) betrachten. Die Frage, ob sich Dalibor und Zdenek/Janko umarmen, Seite an Seite kämpfen oder ‚nur‘ miteinander musizieren, ist demzufolge essenziell. Alles scheint möglich unter Smetanas Melodien, die von Mahler sein könnten, und seiner eher dem späten Verdi denn Wagner nahestehenden Instrumentation.
Erlebte Sternstunde
Deshalb ist auch klar, dass man am Nationaltheater Kosice nach tieflotenden und deshalb international beachteten Produktionen von Szymanowskis „König Roger“ und „Tannhäuser“ unter der seit September 2023 amtierenden Kulturministerin Martina Šimkovičová eine konzertante Produktion des umstrittenen Opus bevorzugte. Diese auch dem „Jahr der Musik“ 2024 des befreundeten Nachbarlandes Tschechien gewidmete Hommage geriet zu einer Sternstunde mit Glanz und Gloria. Nach der souveränen Vorbereitung des Chors und des Nationaltheater-Orchesters durch Peter Valentovič bewies Tomáš Hanus in nur wenigen Probentagen, warum er an großen Häusern als Fachmann für tschechisches Repertoire gehandelt wird. Hanus gestaltete mit einer Detailfreude, einer dynamischen und nur ganz selten die volle Fortissimo-Dröhnung suchenden Feinarbeit, welche die Beliebtheit von „Dalibor“ in Tschechien und in der Slowakei in glorioser Bestform bestätigte.
Vokale Pracht und darstellerische Höchstleistungen
Dazu hatte eine Besetzung mit vokaler Pracht, Hochspannung und Sensibilität. Peter Berger – mit Hanus von einer Vorstellungsserie aus Brünn und Litomyšl kurz in die Ostslowakei gekommen – schaut eher aus wie ein gesetzter Janáček- oder Dvořák-Gutsherr in Böhmens Hain und Flur denn ein dekadenter Ritter mit Sinnkrise betreffend Minnedienst. Das gab es weder in Frankfurt am Main noch Augsburg und nicht einmal in Prag: Berger singt Dalibors Arien-Run im zweiten Kerkerbild mit dessen Deklamationsstrapazen und Höhentorpedos ohne Striche, auf edelster Linie und dazu mit einem unter Tenören heute seltenen elegischen Schleier.
Hochdramatische Besetzungen
Neben ihm brillierte die nach Erfolgen an der Wiener Staatsoper zunehmend für „Elektra“ und Co. gesuchte Eliška Weissová: Eine Hochdramatische mit Mezzo-Fundament, unerschöpflichen Reserven und vollkommen angstfrei in den oft unterschätzten tiefen Passagen. Berger und Weissova spielen ein echtes Liebespaar und liegen sich zum Ende ihrer Duette unter dem Jubel des Publikums demonstrativ in den Armen.
Die anderen Partien kamen aus dem Ensemble und ständigen Gästen des Nationaltheaters. Als König Vladislav zeigte Marián Lukáč vergleichsweise milde Autorität und gab in der Arie des dritten Aktes einen sehr subtilen Einblick in die Belastungen durch das Herrscherdasein. Michaela Várady wertete Dalibors Helferin Jitka mit klar gefasstem Fokus und in schönem Kontrast zu Weissovás Milada stehender Leuchtkraft auf. Juraj Hollý empfiehlt sich in der kurzen Partie des Vitec mit nachdrücklichem Potenzial als zukünftiger Dalibor. Jozef Benci gab dem Kerkermeister Benesch Gewicht und holte zu Recht aus der Komödienleichtigkeit. Dass Benci und Michal Onufer (Budivoj) in der Regel Hauptpartien singen, zeigt den hohen Rang des Ensembles in Kosice.
Nachsatz
Wenn dort im Herbst die slowakische Nationaloper „Krútňava“ von Eugen Suchoň zur Premiere gelangen wird, ist diese Entscheidung das Ergebnis einer langfristigen Planung. Es inszeniert Vera Nemirová in Bühnenbildern von Stephan Braunfels.
Credits
besuchte Vorstellung 22.6.2024; veröffentlicht 27.6.2024
Text: Roland H. Dippel, freier Theaterkritiker, Leipzig/München
Fotos: Zuzana Plešová
Das historische Theater in Kosice (c) wikipedia. org – Lynx1211 – Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0