Zwei bemerkenswerte Neuinszenierung des Klassikers – ein besuchenswertes Sergej-Prokofjew-Festival
1594 schenkte William Shakespeare der Theaterwelt den Bericht über die vier Tage währenden Vorgänge um eine plötzlich aufflammende Lovestory in der aristokratischen Sphäre der Geschäftsstadt Verona. Liebe, Peinlichkeiten, Mord und Verhängnis unter selbstbewussten Renaissancemenschen. Gegenwärtig wird das Ballett „Romeo und Julia“ an vielen Bühnen Mitteldeutschlands inszeniert. 2016 Magdeburg, 2017 Erfurt, 2022 Dresden, 2024 Plauen Zwickau. Seit dem Wochenende ist es in Uraufführungen der benachbarten Ballettcompagnien Halle und Leipzig zu erleben. Ein außerplanmäßiges Festival.
Von Moritz Jähnig
Die Voraussetzungen an den Theatern sind unterschiedlich. In Halle inszeniert der Chefchoreograph und seit 2019 Künstlerische Leiter Michael Sedláček eine ganze Reihe von Handlungsballetten mit regionalen Bezügen, so 2023 „Nussknacker“. Er tanzte in seiner Karriere auch selbst den Romeo.
In Leipzig tritt der neue Künstlerische Leiter Remy Fichet mit dem ersten großen Ballett unter seiner Ägide hervor. Die Choreographie besorgte die US-amerikanische Tänzerin und Choreographin Lauren Lovette aus New York, die als Primaballerina die Julia getanzt hat. Sie macht in Leipzig den ersten Schritt zu einer Europakarriere.
Ganz Krass – Die Welt als Shopping Mall
430 Jahre nach Shakespeare versuchte Chefchoreograf Michal Sedláček, den Konflikt in unser Heute zu übertragen. Konkret bedeutet dies: eine marktwirtschaftlich dominierte Gesellschaft, angeführt von einer modernen Unternehmeraristokratie und deren Angestellten. Getragen von sicherem Theaterinstinkt verlegt Sedláček die Handlung – nicht ohne Ironie – in ein Einkaufszentrum. Hier pulsiert das Leben. Hier wird Designermode auf die Bühne gerollt. Hier tanzen sogar die Schaufensterpuppen.
Bühnenbild und Kostüme: Raum für Tanz und Tanzende
Hynek Dřízhal (Bühne) und Olo Křížová (Kostüme) schaffen einen dem Tanz dienenden und dramaturgisch schlüssigen Bühnenraum. Die Geschäfte zweier unternehmergeführte Modelabels stehen sich in gesunder Konkurrenz gegenüber: die alteingesessene Firma Capulet, etwas hochnäsig und anmaßend, und die unternehmerisch aggressiven Montagues, die Parvenus. Ihre Stores auf der linken und rechten Bühnenseite besitzen hohe, kunstvoll geschmiedete Tortürme, die den Lamberti-Turm in Verona in Erinnerung rufen.
In der Bühnenmitte führt eine Rolltreppe zum Store von Lorenzo. Aus der Präsentation des zum Naturkundler umgedeuteten Paters leuchten die Phiolen wie Warnsignale. Hier gibt es Erlaubtes und Unerlaubtes. In einer Videoinstallation (Anke Tornow) ziehen rote oder schwarze Glücks- und Unheilswolken auf. Von der Decke hängt ein Leuchtkörper wie zu Weihnachten im Leipziger Hauptbahnhof. Der senkt sich später und markiert Julias Schlafgemach.
Neuinterpretation der Charaktere
Auch die Figuren des Balletts werden neu gelesen: Romeo ist nicht der Sohn des Label-Inhabers Mr. Montague, sondern ein einfacher Angestellter. Bei Mrs. Capulet hält der erfolgsverwöhnte Geschäftsmann Paris (Giuseppe Lucenti, aalglatt und wie von einer Teflon-Schicht überzogen) um die Hand der Erbin Julia an – ein Plan, der der ehrgeizigen und erotisch aktiven Chefin (Marketa Jedlickova) sehr gut ins Konzept passt. Eindrucksvoll werden die Generationen zum Beispiel in Jedlickovas Auftritt bei scheinbar toten Julia durch die großen Gesten des Ausdruckstanzes charakterisiert.
Getanzte Rivalitäten
Mrs. Capulet stützt sich im Geschäft vollständig auf Tybalt (Patrick Michael Doe). Dank seiner natürlichen Türsteher-Qualitäten hat er sich bei den Capulets zum Mann fürs Grobe qualifiziert. Er befindet sich im Dauerclinch mit dem aufgedrehten Mercutio von gegenüber (Haruto Goto), der fiebrig, federnd, quirlig und sprungstark eine ganz große Leistung zeigt. Wie auf Crystal Meth provoziert er immer wieder den Türsteher des Konkurrenten und nervt ohnehin alle. Die wirbelnden Kampfszenen und die gestisch eruptiven Tänze der außer sich geratenden Männerwelt prägen sich tief ein.
Romeos Kumpels in der Gruppe nehmen andere Positionen als der aggressive Mercutio ein. Benvolio (Alexey Ruigómez Momene) ist in der Gruppe ein strammer Mitläufer, während sich Romeo (Johan Plaitano) deutlich zurückhält. Er ist ein kompletter Außenseiter, der nicht wirklich dazugehört. Er besucht ungern Partys und bleibt in Gedanken versunken für sich. Da er keine Erfahrung im Umgang mit Waffen hat, erschießt er Tybalt aus Versehen. Sein Entsetzen über die eigene Tat macht Johan Plaitano mit einem fast unmerklichen Erstarren deutlich. Von dem ab gibt er seiner körperlichen Bewegung künstlerisch Beschwernis.
Unausgewogenes Verhältnis Julia und die Freundin
Pater und Parfümeur Lorenzo (Pietro Chiappara) übernimmt als Mall-Inhaber eine Art Oberaufsicht. Aus Lorenzos Labor stammt der verhängnisvolle Trank, der den tragischen Ausgang des Liebesdramas besiegelt. Zaghaft greift Julia Yuliya Gerbyna danach. Sie ist noch immer ein von ihrer vielbeschäftigten Unternehmer-Mutter vernachlässigter Teenager. Vertrauen hat sie nur zu ihrer koketten gleichaltrigen Freundin (Laura Busques Garro), die weiß, wohin das Leben sie führen soll. Julia hingegen träumt von der Liebe, ohne selbst danach zu suchen. Gerbyna tanzt sehr sympathisch und einnehmend, die Aufmerksamkeit zieht allemal die Freundin aus sich.
In der Balkonszene dominiert Julia: Eine hohe Wand wird aus dem Capulet-Store heraus dicht an den Zuschauer herangefahren. In Fensternischen stehen die Modepuppen aus dem Capulet-Sortiment. Eine davon ist Julia. Romeo wählt sie aus, hebt sie herab und trägt sie auf Händen.
Musikalisch wird die Staatskapelle unter dem Dirigat von José Miguel Esandi nach der Premiere noch an der Interpretation arbeiten, was die Abstufung und gesamte Dynamik anbelangt. Vor allem im Blech fehlte es an Präzision.
Handlungsballett mit zu viel Merchandising
„Romeo und Julia“ am Opernhaus Halle ist inhaltlich sehr anregend. Die konzeptionell ambitionierte Story gibt in jedem Moment dem Tanz in den Einzelposen, in romantischen Pas de deux und in effektvollen Gruppentänzen den Vortritt. Ein wenig to much: das Merchandising mit Verkauf von Designerkleidung, Logos und eigener Parfümlinie.
Gefühle in Organza – Die Welt backstage
Die in Kalifornien geborene und von der US-amerikanischen Ballettwelt geprägte Tänzerin und Choreografin Lauren Lovette erzählt in ihrer „Romeo und Julia“-Choreografie nicht von irgendwelchen Konflikten, etwa in einem Einkaufstempel in Günthersdorf. Ihr Thema ist die zeitlose Liebe. Wie in Halle ist der Handlungsort nicht Verona anno dazumal, sondern hier, jetzt, nebenan im Leipziger Opernhaus am Augustusplatz.
Dafür sind Wandtäfelung, Säulen, die ikonischen Leuchten der DDR-60er Jahre und sogar die Raumaufteilung und die Theatersessel detailgetreu nachgebaut (Bühne und Kostüme von Thomas Mika). Die Balkonszene findet optisch oben im Rang des Opernhauses statt. Und wer es noch immer nicht begreift, für den strahlen im Moment der höchsten Verzweiflung die Scheinwerfer ins Publikum.
Weichgespült und schaumgebremst
Wenn sich der Vorhand hebt, sind wir auf der Hinterbühne. Hier findet zwischen technischem Kram so etwas wie eine Stellprobe statt. Romeo stößt wie zufällig dazu. Meinungsverschiedenheiten kommen auf und die Rauferei unter den Männern beginnt – allerdings weichgespült und schaumgebremst. Wo in Halle die Dolche blinken und sogar Schüsse fallen, geht in Leipzig die Meute mit Schaumstoffschlägern aufeinander los. Ob dies als Probensituation auf dem Theater oder als Realitätsscheu interpretiert werden soll, bleibt offen.
Die Kampfszenen erinnern an die Jets und die Sharks in „West Side Story“, nur dass die Capulets und Montagues besser gekleidet sind. Die Stoffe sind edel, die Farben dezent: Weiß, Flieder, Saphir, Rosé. Es wird nach der neoklassischen Bewegungssprache getanzt, und Auftritt für Auftritt fügt sich zu einem anmutigen Gesamtbild zusammen, das Gefühle hymnisch feiert – losgelöst von sozialer Determination.
Die Sache mit den Gefühlen
Kommen echte Gefühle auf? Die Gestik bei Julias und Romeos tragischem Ende bleibt theatralisch; ihre Gesten berühren nicht. So auch bei andere. Eine Ausnahme ist Mercutio, von Marcelino Libao mit phänomenal artistischem Körperausdruck getanzt. Ein Tänzer wie er ist nicht zu dämpfen.
Frei von falschem Pathos gestaltet Carl von Godtsenhoven den Tod von Julias Bruder Tybalt. Wie eine Pieta nimmt Lady Capulet (Ester Ferrini) nimmt den toten Sohn und Erben der Capulet trauernd im Arm, ein starkes Bild.
Auf die vertraute Amme wird in dieser Inszenierung verzichtet. Julias Freundin wird wie die stumme Frauenfigur bei Shakespeare Rosalinde genannt (herausfordernd und präsent getanzt von Madoka Ishikawa).
Liebhaber des eleganten Tanzes kommen in den Genuss schöner Szenen mit dem Traumpaar. Die Solisten Soojeong Choi und Andrea Carino strahlen sich beim ersten Kennenlernen unglaublich offen an, sind bereit, gemeinsam in ein fernes Glück zu schweben. Die Darbietung ist unendlich kultiviert und brillant, doch emotionale Berührung bleibt aus.
Auf höchstem musikalischem Niveau
Atut des Premierenabends war das Gewandhausorchester. Der elementaren Kraft von Sergej Prokofjews Komposition – seiner eigenwilligen Rhythmik in den Rittertänzen und den weich fließenden lyrischen Passagen – wird kaum besser Genüge getan, als es der Klangkörper unter dem Gastdirigat von Anna Skryleva bot.
Die Generalmusikdirektorin des Theaters Magdeburg ist am Pult des Gewandhauses keine Unbekannte: Sie leitete sowohl die Wiederaufnahme von Strauss’ „Elektra“ als auch im Juni die (leider letzten) Vorstellungen von Rossinis „La Cenerentola“. Im nächsten Jahr wird die russischstämmige Dirigentin „Pique Dame“ leiten.
Perfekt als Startschuss
Lauren Lovettes Fassung von „Romeo und Julia“ ist ein ästhetischer Hochgenuss und musikalisch auf selten erreichtem Niveau – ein perfekter Startschuss für ihre geplante internationale Karriere und ein Hinweis auf die Richtung von Leipzigs Ballettdirektor Rémy Fichet.
Gefühlsmäßig verlässt man das Opernhaus vom Tanz ungerührt.
Annotation
“Romeo und Julia”. Ballett in 4 Akten von Sergej Prokofjew, Adrian Piotrowski, Sergej Radlow und Leonid Lawrowski. Ballett der Bühnen der Stadt Halle. Musikalische Leitung: José Miguel Esandi, Choreografie: Michal Sedláček, Bühnenbild: Hynek Drizha, Kostüme: Olo Krizova, Video: Anke Tornow, Dramaturgie: Boris Kehrmann,
Besetzung
Mr. Montague: Aurelian Child-de-Brocas/Roman Soviar, Romeo: Johan Plaitano /Aurelian Child-de-Brocas, Mercutio: Haruto Goto/ Reo Morikawa, Benvolio: Jorge Alexey Ruigomez Momene, Mrs. Capulet: Marketa Jedlickova/Kanako Ishiko/Amelie Watson, Julia: Yuliya Gerbyna/ Sherly Corin Belliard Rosario, Tybalt: Patrick Michael Doe/ Roman Soviar/Jorge Alexey Ruigomez Momene, Julias Freundin: Laura Busquets Garro/Donna-Mae Burrows, Paris: Giuseppe Lucenti/Roman Soviar, Mr. Lorenzo: Pietro Chiappara/Haruto Goto/ Reo Morikawa, Mitarbeitende der Designerfirma Capulet: Laura Busquets Garro, Marketa Jedlickova, Yuliya Gerbyna, Amelie Watson, Ayana Kamemoto, Kanako Ishiko, Donna-Mae Burrows, Letizia Bonacini, Lana Klemen, Sherly Corin Belliard Rosario, Roman Soviar, Pietro Chiappara, Haruto Goto, Jorge Alexey Ruigomez Momene, Giuseppe Lucenti, Johan Plaitano, Aurelian Child-de-Brocas, Patrick Michael Doe, Reo Morikawa, Orchester: Staatskapelle Halle
Premiere und besuchte Vorstellung 25.10.2024; veröffentlicht 31.10.2024
„Romeo und Julia“. Ballett in 3 Akten von Sergej Prokofjew, Adrian Piotrowski, Leonid Lawrowski und Sergej Radlow. Leipziger Ballett. Musikalische Leitung: Anna Skryleva, Choreographie. Lauren Lovette, Bühne, Kostüm: Thomas Mika, Licht: Michael Röger, Dramaturgie: Anna Diepold
Besetzung
Julia: Soojeong Choi / Yun Kyeong Lee, Romeo: Andrea Carino / Flavio Salamanka, Mercutio: Marcelino Libao / Daniel Róces Gómez, Benvolio: Landon Harris / Alessandro Repellini, Tybalt: Carl van Godtsenhoven / Marcos Vinicius da Silva, Lady Capulet: Ester Ferrini / Anna Jo, Rosalinde: Madoka Ishikawa / Diana van Godtsenhoven, Paris: Oscar Ward, Lorenzo: Vincenzo Timpa / Pedro Luz, Leipziger Ballett, Orchester: Gewandhausorchester
Premiere und besuchte Vorstellung 26.10.2024; veröffentlicht 31.10.2024
Credits
Text: Moritz Jähnig, freier Theaterkritiker, Leipzig
Foto: © Yan Revazov / Ida Zenna