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Halle: Drei Hochs auf Mrs. B.

Halle: Drei Hochs auf Mrs. B.

Die Oper Halle gastiert mit Benjamin Brittens komischer Oper „Albert Herring“ im Saal des Neuen Theaters.

            Von Oliver-Pierre Rudolph

Die Spitzen der lokalen Gesellschaft: Linda van Coppenhagen als Lehrerin Miss Wordsworth, Gerd Vogel als Vikar Mr. Gedge, Ks. Anke Berndt als Lady Billows, Chulhyun Kim als Bürgermeister Mr. Upfold, Ki-Hyun Park als Polizeichef Mr. Budd.

Der weltberühmte Pianist Sviatoslav Richter nannte sie „die größte komische Oper des Jahrhunderts“. Ein begeistertes Hallenser Premierenpublikum konnte dem feinen Humor Brittens in einer aktualisierten Inszenierung von Karolina Sofulak als Koproduktion des Teatr Wielki Stanislaw Moniuszko Poznań und der Oper Halle nachspüren. War die ursprüngliche Version dieser Inszenierung, die vor zwei Jahren in Poznań zur Aufführung gelangte, noch auf den LGBT-Aspekt und die spezifische gesellschaftliche Situation in Polen zugeschnitten, weitet Karolina Sofulak in der Neuauflage ihren Blick auf die Jugend im Kampf gegen weltweite reaktionäre politische Tendenzen und zeigt damit auf, dass das Werk nichts von seiner Aktualität verloren hat.

Da Brittens komische Oper bislang auf deutschen Bühnen nicht unbedingt zum Standardrepertoire gehört, sei die Handlung in ihrem Kern kurz skizziert: Die in einer kleinen Ortschaft gesellschaftlich den Ton angebende Lady Billows will dem Verfall der Moral durch die Wahl einer Maikönigin entgegentreten. In Ermangelung eines hinreichend tugendhaften Mädchens wird der schüchterne Außenseiter Albert Herring, Gehilfe im Obstladen seiner Mutter, zum Maikönig gewählt und gefeiert. Nach unfreiwilligem Alkoholgenuss durch Erlebnisse auf dem Heimweg von der Feier getriggert, wagt er den Ausbruch aus der Enge seines fremdbestimmten Lebens. Auf einer Tour durch das Nachtleben des Nachbarortes verprasst er sein Preisgeld, um endlich etwas zu erleben. Am nächsten Morgen heimgekehrt, widersetzt er sich erstmals dem strengen Regime seiner Mutter und bietet auch Lady Billows Paroli.

Bühnenshow in Comic Strip Ästhetik

Im linken vorderen Bereich der wohlgegliederten Bühne singt und spielt das dreizehnköpfige Ensemble der Oper Halle in beweglichen Kulissen. Dahinter kreiert Dorota Karolczak im Innern einer bespielbaren Box mit wenigen Requisiten die beklemmende Atmosphäre von Mrs. Herrings Obstladen. Zeitweilig mit einer Leinwand verschlossen dient dieselbe Box als Projektionsfläche für Radoslaw Cabałas Videoclips, welche die Handlung ironisch kommentieren. Auf der rechten Bühnenhälfte führt ein treppenartig aufsteigendes Podest hinauf zu Lady Billows Thronsessel.

Einschließlich musikalischem Leiter am Fortepiano ebenfalls dreizehn, spielen die solistisch besetzten Musiker der Staatskapelle Halle in der rechten Bühnenhälfte zu Füßen von Lady Billows’ Thronsessel auf. Mit ihren Florentinerhüten erinnern sie an ein US-amerikanisches Revue- oder Jazzorchester. Das passt hervorragend zu den von Dorota Karolczak entworfenen schwarz-weißen Kostümen, in welchen Sängerensemble und Musiker zu Comic Strip Figuren gestylt werden, und zu den Kulissen im Stil einer Fernsehshow.

Andreas Beinhauer und Rosamond Thomas als Liebespaar Sid und Nancy, rechts daneben Robert Sellier in der Titelrolle des Albert Herring

Grandios agierendes Ensemble

Das Ensemble und die Musiker leisten einen hervorragenden Job, dem Publikum die komplexen und häufig polyphonen musikalischen Formen mit all’ den von Britten gekonnt in die eigene Tonsprache eingebetteten musikalischen Zitaten, Stilimitationen und Querverweisen transparent zu machen. In dem ausgezeichneten Programmheft bietet Dramaturg Boris Kehrmann dem interessierten Publikum zudem einen äußerst hilfreichen Leitfaden durch das anspruchsvolle Werk.

Ks. Anke Berndt meistert als Lady Billows mit aristokratischer Pose grandios Brittens herausfordernde Kolloraturen. Sie ist mit ihrer großartigen Interpretation dieser Paraderolle definitiv der Star dieses Abends.

Als ihre Haushälterin und ihr Faktotum Florence treibt Gabriella Guilfoil mit sattem Mezzosopran, gutem Spürsinn für Brittens Komik und sehr guter Textverständlichkeit die Handlung voran.

Robert Sellier überzeugt mit seiner einfühlsamen Tenorstimme und mit bewundernswerter Wandelbarkeit vom gemoppten Außenseiter zum Rebellen in der Titelrolle des Albert Herring. In der Krönungsszene auf ein Rad gebunden und gedreht, muss er einiges erdulden, bis er am Ende in neu gewonnener Freiheit seine Persönlichkeit entfalten kann. Dabei meistert er alle Facetten seiner vielschichtigen Rolle.

Gerd Vogel gibt mit grandioser Komik den Vikar Mr. Gedge; das Quartett der lokalen Gesellschaftsgrößen vervollständigt sich sehr überzeugend durch Linda van Coppenhagen als Lehrerin Miss Wordsworth, Chulhyun Kim als Bürgermeister Mr. Upfold, Ki-Hyun Park mit geschmeidigem Bass als Polizeichef Mr. Budd.

Kammersängerin Anke Berndt als Lady Billows, rechts von ihr ein Teil der dreizehn auf der Bühne platzierten Solisten der Staatskapelle Halle.

Andreas Beinhauer als Sid beeindruckt wie schon in anderen Produktionen der Oper Halle so auch hier mit der großen Versatilität seiner Stimme. Grandios kommen in der Rolle des Sid auch seine schauspielerischen Qualitäten zur Geltung. Besonders im Duett mit Sid fasziniert Rosamond Thomas als Nancy Waters das Publikum.

Auch Ariana Lucas als Mrs. Herring meisterte ihre Rolle in bewundernswerter Weise, gleichwohl sie nach Auskunft des Dramaturgen Boris Kehrmann wegen des erhöhten Pollenflugs am Premierentag an einer heftigen allergischen Reaktion litt und dadurch möglicherweise ihr Potential nicht voll ausschöpfen konnte.

Philine Götz, Alexa Hänsel und Amadea Voigt aus dem Kinder- und Jugendchor der Oper Halle überzeugen als gleichberechtigte Mitglieder des Ensembles in den Rollen der Kinder Emmy, Siss und Harry sowohl sängerisch als auch schauspielerisch.

Robert Sellier als Albert Herring, umringt von Philine Götz als Emmy, Alexa Hänsel als Siss und Amadea Voigt als Harry; außen links und rechts Rosamond Thomas (Nancy) und Andreas Beinhauer (Sid)

Licht- und Videodesign

Wiktor Kuźmas Lichtführung und Radoslaw Cabałas Videodesign unterstützen die Inszenierung perfekt. Dabei gelingt es, das Publikum in die Aufführung zu integrieren, z.B. wenn Gabriella Guilfoil als Florence, Lady Billows’ rechte Hand, in das Publikum hineinfilmt, so dass die Zuschauer sich auf der Videoproduktionsfläche sehen können, oder wenn eine Discokugel ihre Lichtkreise über den gesamten Saal ausbreitet.

So wird das Kammerspiel der Oper im Saal des Neuen Theaters für das Premierenpublikum zu einem ganz besonderen Erlebnis. Der Besuch wenigstens einer der folgenden Vorstellungen sei allen Opernfreunden wärmstens empfohlen.

Annotation

„Albert Herring“: Komische Oper in drei Akten (fünf Bildern) von Benjamin Britten, Libretto von Eric Crozier nach Guy de Maupassant (in deutscher Sprache mit deutschen Übertiteln, aus dem Englischen von Carolyn Sittig & Waltraud Gerner), Bühnen der Stadt Halle, Oper, Koproduktion des Teatr Wielki Stanislaw Moniuszko Poznań und der Oper Halle, Fortepiano und musikalische Leitung Yonathan Cohen Regie Karolina Sofulak, Bühne & Kostüme Dorota Karolczak, Lichtdesign Wiktor Kuźma, Videodesign Radoslaw Cabała, Dramaturgie Boris Kehrmann

Besetzung

Lady Billows Ks. Anke Berndt, Florence Gabriella Guilfoil, Miss Wordsworth Linda van Coppenhagen, Mr. Gedge Gerd Vogel, Mr. Upfold Chulhyun Kim, Mr. Budd Ki-Hyun Park, Sid Andreas Beinhauer, Albert Herring Robert Sellier, Nancy Waters Rosamond Thomas, Mrs. Herring Ariana Lucas, Emmy Philine Götz, Siss Alexa Hänsel, Harry Amadea Voigt, Mitglieder der Staatskapelle Halle

Premiere und besuchte Vorstellung 27.04.2024; veröffentlicht 29.04.2024

Credits

Text: Oliver-Pierre Rudolph, Leipzig

Fotos: © Anna Kolata

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