Ballettabend der Bühnen Halle mit „Ich…“ und „Radio & Juliet“
Am Ostersonnabend schlug in Halle die Stunde des Tanzes. Festlich Ballettpremiere im Opernhaus. Zur Pause frenetischer, am Ende lautstarker Applaus! Ballettdirektor Michal Sedláček überreichte unter dem Jubel der vollbesetzten Platzreihen einen riesigen Teddybären an Johan Plaitano, der mit der Uraufführung von „Ich…“ nach glorreichen Solistenjahren jetzt definitiv zur Choreographie wechselt.
von Roland H. Dippel
Das ungewöhnliche Premierenpräsent war noch viel größer als der zu Beginn und am Ende von Plaitinos Tanzstück allein auf der Bühne sitzende, verklärend angeleuchtete Teddy. Das „Ich…“ im Titel meint eigentlich uns alle, will Plaitino sagen. Und er lädt das Publikum, aber auch Das Ballett der Bühnen Halle ein, seinen Visionen von Spiel und Verkindlichung zu folgen. Noch vor der Wiederaufnahme von Sedláček Märchenballett „Alice im Wunderland“ ab 26. April macht Plaitino in seiner selbst entwickelten Dekoration die Bühne am Universitätsring zum Abenteuerspielplatz ersehnter wie unschuldiger Glückseligkeit -auf Schaukeln und einer Rampenschräge, die später als Rutschbahn zum Dauereinsatz gelangt.
Choreographie schmiegt sich an Tonkonserve
Das Ensemble tritt mit Anzügen und Kleidern von klassischer Eleganz auf. Die Farben sind gedeckt und der Ausbruchswille gegen diese Konformität zwangsläufig groß. Glückshormone explodieren aus dem allzu straff sitzenden Sozialkorsett. Also wird gespielt in den nächsten 25 Minuten! Die gute Ordnung der Einzelaktionen, Zweier-, Dreier-, Vierergruppen löst sich aber nicht auf und bleibt in absehbaren Geleisen. Erst denkt man, es handle sich um einen Spiegel des Lebens mit Partnersuche, Paar-Glück und Kettenreaktionen bei ausgelassenen Rutschpartien.
Aber nichts dergleichen. Es ist nicht ganz klar, ob Ryan Teague die gebrochenen Dreiklänge vom synthetischen Klavier, die minimalistischen Standardsequenzen und attraktiven Rhythmen auf Bestellung oder autonom geliefert hatte. Denn Plaitinos Bewegungsfolgen schmiegen sich – unterbrochen durch freie Improvisationen – den Musikkonserven Teagues an und ordnen sich ihnen unter, statt mit choreographischer Kreativität über ihnen zu schweben. Das Video kurz vor Ende beschwört die kreative und menschliche Einvernehmlichkeit der Kompanie, feiert das „Ich…“ als Gruppenglanztat.
Fragen an die Stückauswahl
Nach der Pause das schiere Gegenteil. Es war fast unfair, Plaitinos beachtliche Debütanten-Leistung mit dem Gegenwartsklassiker „Radio & Juliet“ zu kombinieren. Auf den Newcomer folgte die ausgereifte, weil seit der Uraufführung 2005 mehrfach wiederholte, verfeinerte und mit dieser Erfahrung anderen Kompanien in die Tänzerkörper entsendete Romeo-und-Julia-Paraphrase. Die Hinterfragung des rumänischen Choreographen Edward Clug war im slowenischen Maribor bereits vor knapp zwanzig Jahren als Hommage an die seit 1985 erfolgreiche Independent-Band Radiohead gedacht. Die Songs mit ihren bei Pink Floyd anknüpfenden und sich von diesen schnell freimachenden E-Gitarre-Klänge verlieren zwei Dezennien später nichts von ihrem Charisma, Clugs Choreographie auch nicht.
Kalter bis erhitzter Tanzstil
Der Tanz, die durch Lichtschlitz-Breite getrennten Mauerquader Marko Japeljs, das Video im Stil eines Film noir und die Musik von Radiohead runden sich in „Radio & Juliet“ mit sensitiver Kompetenz. Tijuana Križman Hudernik, die selbst Clugs Juliet in vielen Vorstellungen verkörperte, hat mit mehreren Besetzungen die Rückblende aus Perspektive Juliets einstudiert – kalter bis erhitzter Tanz für sechs Männer und eine Frau. Ein ganz starkes Ensemblestück.
Erst streichelt das schwarzweiße Video nach Überwindung einer hölzernen Haustür den Körper einer jungen Frau von den Füßen bis zum Scheitel: Juliet kommt aus temporärer Betäubung zu sich. Ihr korsettartiges Kostüm zeigt, dass Herz und Körper nicht frei sind. Anders verhält es sich bei den Männern, die ihre Emotionen mit offenen Oberkörpern unter schwarzen Anzügen kraftvoll vor sich hertragen. Aber Romeo und Julia frieren zwischen kurzen Blackouts immer wieder ein. Nur wenige Momente aus der Tragödie Shakespeares – wie die Kämpfe zwischen den verfeindeten Adelssippen oder die heimliche Trauung – sind erkennbar.
Weitere Version einer unverwüstlichen Choreographie
Vor allem offenbart Clugs tänzerischer Kraftakt eine eher raue Beziehung zwischen den Geschlechtern, sanktioniert durch restriktive Balzrituale. Juliets Sehnsüchte zerbrechen am Außen. Wie stark, ja unverwüstlich diese Choreographie ist, zeigt deren impulsive, sensitive, energetisch bezwingende Aneignung durch das Ballett der Bühnen Halle. Auch darin, dass technische und tänzerische Mittel sich mitreißend ergänzen und überdies die zahlreichen Adaptionen der Tragödie noch um eine ziemlich eigenwillige Perspektive bereichern. Das geschieht ohne Konkurrenz zu den längst klassischen Choreographien nach Prokofieffs Handlungsballett.
Bei Clug geht Juliet nur ein einziges Mal auf die Spitzen. Und das geschieht auch hier auf einer Woge schmerzlicher Gefühle, fast wie in der Romantik.
Szenen aus „Radio & Juliet“
Annotation
“Ich… | Radio & Juliet”. Choreografien von Johan Plaitano und Edward Clug mit Musik von Ryan Taegue und Radihead
Besetzung
Choreografie, Bühnenbild & Kostüme »Ich…« Johan Plaitano, Choreografische Assistenz »Ich…« Yuliya Gerbyna , Ensemble: Laura Busquets Garro, Ada Marthine Marthinsen, Karen Mesquita, Amelie Watson, Ayana Kamemoto, Kanako Ishiko, Letizia Bonacini, Yuliya Gerbyna, Marketa Jedlickova, Donna-Mae Burrows, Patrick Michael Doe, Reo Morikawa, Haruto Goto, Pietro Chiappara, Giuseppe Lucenti, Aurelian Child-de-Brocas, Roman Soviar, Jorge Alexey Ruigomez Momene
Choreografie »Radio & Juliet« Edward Clug, Bühnenbild Marko Japelj, Kostüme Leo Kulaš, Lichtdesign Tomaž Premzl, Einstudierung Tijuana Križman Hudernik, Choreografische Assistenz Yuliya Gerbyna / Johan Plaitano. Juliet – Yuliya Gerbyna/ Marketa Jedlickova/ Kanako Ishiko, Romeo – Aurelian Child-de-Brocas/ Haruto Goto, Mercutio – Haruto Goto/ Reo Morikawa, Tybat – Patrick Michael Doe / Johan Plaitano. Ensemble Johan Plaitano, Reo Morikawa, Pietro Chiappara, Roman Soviar, Jorge Alexey Ruigomez Momene, Giuseppe Lucenti, Dramaturgie Patric Seibert
Premiere und besuchte Vorstellung 30.3.2024; veröffentlicht 3.4.2024
Credits
Text: Roland Dippel, freier Theaterkritiker, Leipzig/München
Fotos: © Yan Revazov