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LEIPZIG: Goethe genügt

LEIPZIG: Goethe genügt

Premiere eines „Faust“-Balletts von Edward Clug in Leipzig.

Das „Faust“-Ballett von Edward Clug überrascht mit einer geradezu buchstabengetreuen Erzählweise und scheint wie für die Buchstadt Leipzig mit „Auerbachs Keller“, ihrem Goethe, ihrem Mephisto und ihrem Faust konzipiert, Uraufgeführt wurde das Stück des rumänischen Choreographen allerdings 2018 in Zürich.

Von Moritz Jähnig

Die Geschichte spult sich im tradierten Bilderkosmos ab, der jedem Schulkind in Deutschland eingebimst wird: von dem seines Lebens überdrüssigen Doktor Heinrich Faustus, der einen Teufelspakt schließt, von dessen Hand geleitet zurück zur Wissenschaft findet, der verjüngt und übermütig ein junges Mädchen namens Gretchen verführt, ihren Bruder Valentin killt, vor der Verantwortung flieht, durch die Freuden der Nacht tanzt, um schließlich, die Frau sowie sein Kind ihrem Schicksal überlassend, in die Welt zu ziehen.

So traditionell so gut. Die Zürich/Leipziger Fassung knüpft dann zum Glück in keinem Moment an eine Faust-Rezeption an, wie sie die wundervollen Bronzen von Mathieu Molitor vor der Touristengaststätte „Auerbachs Keller“ pflegen. Clug lüftet die muffige Faust-Geschichte ist für sein Tanztheater kräftig durch. Mit sicherer Hand hat er sie von erdener theutscher Gedankenschwere und biedermeierlichem Spaß befreit, wiewohl er den berühmten Fassritt dann wieder ironisch zitiert. Weiter tut es dem Stoff gut, dass das Regieteam, zu dem Leo Kulas (Kostüme) und Marko Japelj (Bühne) gehören, ihn nach dem Entrümpeln nicht wieder mit zeitgeistigem Ballast überfrachtet.

Die vielköpfige Leipziger Compagnie erzählt pur, mit ausgewählten witzigen Zutaten. Das Gretchen, sammelt die nach dem kollektiven Komasaufen von der lederbehosten Studentenschaft auf der Ostermesse weggeworfenen Pfandfalschen sorgsam in Kästen zusammen. Hierdurch wird die Figur sozial eindeutig verortet. Fausts Gretchen ist kein behütetes Bürgertöchterlein, sondern Putzkraft in Fausts Stammkneipe. So wie die Kindsmörderin Brandt aus Frankfurt, die vermutlich Goethes Vorbild für die tragische Dramengestalt war.

Auch Mephisto ist gut mit im Geschäft! Er polt mit Injektionen den lahmen Rollstuhlfahrer Faust zu einem unberechenbaren Jugendlichen um. Er dealt und ist dabei einem schlaksigen, pardon: Connewitzer Meister aller bösen Tränke verblüffend ähnlich. Doch das alles bleibt völlig vorwurfsfrei, leicht und voll komödiantischer Lust am Leben.

Genialisch gelingt das Bild von der Werbung Fausts um das keusche Gretchen, wo er mit Mephisto zu einem Körper verschmilzt. Oder der atemraubende Kindsmord: Gretchen, vielfach geklont, erscheint mit ihrem Scheuereimer in der Kneipe und kippt wie nebenbei das Dreckwasser in ein zierliches Puppenwägelchen. Nicht mehr. Alles erledigt. Während der Arbeitszeit. Hoch ritualisiert getanzt und sehr breit dargestellt ist in der Abfolge der Mord an Valentin (Marcelino Libao).

Es gibt in der Faust-Geschichte Szenen, die ich mir vom Choreographen gern ausführlicher und tiefgründiger miterzählt bekommen hätte. Und sei es in einer seiner erweiternden Pantomimen. Die soziale Rolle der Marthe (Ester Ferrini) im Verführungsspiel zum Beispiel. Oder die Funktion der Sybil (Diana Sandu).

Intensive Momente im Tanz liefert zu förderst der schon genannte empathiefreie Mephisto (Marcos Vinicius Da Silva). Er strahlt als die treibende und herausragende Figur in seinen Szenen, auch mangels gleichstarker Gegenüber. Faust (Carl van Godtsenhoven) schreitet als junger Mann zu gern und zu oft nur würdevoll. Das Gretchen (Samantha Vottari) tanzt hinreißend lieblich. Die Zerrissenheit und die emotionalen Folgen ihrer Grenzüberschreitung drückt sie körperlich wenig aus. 

Milko Lazars Musik hat mehr Raffinement, als von der Choreographie genutzt wird. Das Gewandhausorchester stellt sich unter dem Dirigat von Matthias Foremny hoch konzentriert in den Dienst dieser Kompositionen. Die Musiker schaffen eigenständig, plastisch geformte Klangmomente. Bewunderung für die Solovioline von Jekesch. Am Cembalo Christian Hornef.

Wenn es im Laufe des zweistündigen, unterhaltsamen Abends über das Bühnengeschehen hinaus Augenblick gab, in denen im Saal kurz der Atem zu stocken schien, dann lag das an den Tiefen, die diese differenzierte, suggestive Musik ahnen ließ. – Viel Beifall zu Premiere.

ANNOTATION

„Faust“, Ballett von Edward Clug, Musik von Milko Lazar, DE, Musikalische Leitung Matthias Foremny, Choreografie / Dramaturgie Edward Clug, Bühne Marko Japelj, Kostüme Leo Kulaš, Licht Martin Gebhardt,

Mitwirkende: Faust Carl van Godtsenhoven, Mephisto Marcos Vinicius Da Silva, Gretchen Samanta Vottari, Marta Ester Ferrini, Sybil Diana Sandu, Valentin Marcelino Libao, Wagner Alessandro Repellini, Ein Engel Madoka Ishikawa, Jesus David Iglesias Gonzalez

Damen und Herren des Leipziger Balletts.

Das Gewandhausorchester

CREDITS

Text: © moritzpress

Foto: © Ida Zenna

Besuchte Vorstellung: Premiere 05.02.2022; Veröffentlichung: 07.02.2022

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