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Gerhard Kneifels umjubeltes Comeback

Gerhard Kneifels umjubeltes Comeback

DDR-Musical im Westbad: „Bretter, die die Welt bedeuten“.


Am Freitagabend gab es im Westbad die Premiere von „Bretter, die die Welt bedeuten“. Es war die allererste Produktion eines Werks des Heiteren Musiktheaters der DDR seit dem Mauerfall 1989, welches nicht von den Gattungsspitzenkomponisten Guido Masanetz und Gerd Natschinski stammt. Der DDR-Operettenpapst Otto Schneidereit nannte das Operetten-Musical von Gerhard Kneifel (1927-1992) eine „preußische Posse“. Nach der Uraufführung im (Ost-)Berliner Metropoltheater am 24. April 1970 begann deren beispielloser Siegeszug an nahezu alle Musiktheater der DDR. Bereits am 12. Dezember 1970 war die Leipziger Erstaufführung an der Musikalischen Komödie. Das nur wegen der Pandemie reduzierte Publikum jubelte lange und laut.


von Roland H Dippel

Ein denkwürdiger Abend in mehrfacher Hinsicht: Kurz vor Probenbeginn wurde eine Pause im Stück genehmigt und damit eine ‚ordentliche‘ abendfüllende Spieldauer ermöglicht. Inspiriert von einem wissenschaftlichen Themennachmittag der MuKo am 31. Oktober 2019 wollte Musikdirektor Stefan Klingele unbedingt ein DDR-Stück jenseits der bekannten Spitzentitel „Mein Freund Bunbury“ (noch im Dekodepot der MuKo), „Messeschlager Gisela“ und „In Frisco ist der Teufel los“ (halbszenische Hommage zum 101. Geburtstag von Guido Masanetz an der MuKo2015) erkunden. Der Gedanke an ein Werk von Gerhard Kneifel lag nahe: „Bretter, die die Welt bedeuten“ kam 1970 nur acht Monate nach der Berliner Uraufführung zur Leipziger Premiere. Der als Arrangeur ganze Rundfunk-Notenbibliotheken füllende und als Tanzkapellen-Dirigent sprichwörtliche Gerhard Kneifel wirkte und starb in Leipzig.

Kneifel also: Ursprünglich sollten die „Bretter“ im April 2021 im Venussaal der ’neuen‘ MuKo zur Aufführung herauskommen. Dann vorverlegte man sie in den durch die Pandemie bedingten Dauerverschiebungen als Saisonstarter auf die Position von Lehárs „Juxheirat“. Darauf ergaben sich durch Lockerungen des Spielbetriebs Freiräume für größere Besetzungen. Keine leichte Arbeit für Daniel Hirschel! Er berücksichtigte in seiner Textbearbeitung auch das in der DDR mögliche Maß an Gesellschaftskritik, welches die das Heitere DDR-Musiktheater von der Operette zum Musical einpeitschende Autorenduo Helmut Bez und Jürgen Degenhardt vollends ausschöpfte. Und Hirschel bereicherte mit dezenten Zutaten, welche das spezifische DDR-‚Zwiedenken‘ als andere Ebene der Kommunikation zwischen Bühne und Publikum für die Generation ’30 Jahre Wiedervereinigung‘ erlebbar machen sollte.

Im Publikum saßen bewegt, amüsiert, aber auch skeptisch die MuKo-Protagonisten von früher: Monika Geppert (Intendantin i. R.), Erwin Leister (Chefregisseur i. R.), Roland Seiffarth (Chefdirigent i. R.) und die Nachkommen des Komponisten. Auf mehreren Ebenen ging es bei dieser Wiederaufführung auch um das (Nicht-)Wissen der Nachgeborenen, und jene latente gesellschaftliche Brisanz hinter der altväterlichen Attitüde, mit der Kneifel, Bez und Degenhardt listig agierten. Denn der Zeitschub vom Uraufführungsjahr 1884 der Schwank-Quelle „Der Raub der Sabinerinnen“ der Brüder Schönthan ins Musical-Handlungsjahr 1905 rückt „Bretter, die die Welt bedeuten“ in die Nähe von Heinrich Manns und von Wolfgang Staudte in DDR-Zelluloid gebannten „Untertan“.

So passt „Bretter, die die Welt bedeuten“ außerordentlich gut zu den MuKo-Schwerpunkten von „Prinzessin Nofretete“ bis zum weitaus flacheren Musical-Epos „Doktor Schiwago“ (im Dezember folgt Jean Gilberts „Die Kinokönigin“). Das Orchester der Musikalischen Komödie feiert und jubelt diesen Sound, für den der Schott-Verlag dem Dirigenten Christoph-Johannes Eichhorn die nur schwer entzifferbare Kopie einer handgeschriebenen Partitur liefern konnte. Im Halbkreis sitzen die Solisten zu Beginn auf dem Podium und erwachen wie aus langem Dornröschen-Schlaf. Die erst sehr umfängliche Conference von Chefregisseur Cusch Jung tritt bald nobel hinter den direkten Dialogen zurück. Virtuos erfüllt das MuKo-Ensemble die Ideale einer differenzierenden Gestaltung mit allen Farben von filigran bis grob.

Hinter den beiden Alphatier-Direktoren posieren die Figuren des gehobenen Bürgertums und des von diesem verpönten fahrenden Theatervolks jeweils gegenüber. Milko Milev stellt sich mit feinem Pianissimo als „Herr Direktor“ Striese vor. Für Michael Raschle, der als Gymnasialdirektor Gollwitz Damenknie vor allem mit den Augen streichelt, wäre Prügelstrafe wohl das absolute No-Go. Im Zentrum der soziologisch korrekten Aufstellung befindet sich Andreas Rainer als Dr. Leo Neumeister und zeigt ganz hohe Affinität zu den ab 1933 gängigen Disziplinierungsmethoden. Großartig auch alle anderen: Nora Lentner (theaterverliebte höhere Tochter Paula), Ensemble-Neuzugang Vikrant Subraminian (Sterneck, der schöngeistige Bonvivant mit Kontakt zu politischen Hinterzimmern), Theresa Maria Romes (als auf italienische Gräfin getrimmte Fleischertochter aus Teltow), Angela Mehling (Frau Striese) und Anne-Kathrin Fischer (Frau Prof. Gollwitz) als die großen Mütter ihrer Milieus sowie Anna Evans (Frau Dr. Neumeister). Über sie alle und Mirko Mahrs stil-authentische Choreographie möge es rote Rosen regnen auf Frank Schmutzlers Bühne mit schwerem Purpurvorhang und Thespiskarren!

Vor allem Franka Lüdtkes Kostüme wuchten das Geschehen von der Entstehungszeit der Brüder Schönthan um 1875 in die von Bez, Degenhardt und Kneifel satt szenifizierte Hochphase des deutschen Kaiserreiches von 1905: Völkische Ideen ante portas. Das Land, in dem die Zitronen blühen, suchen Damen eher mit den Roben als mit dem Geist.

Zugegeben: Einiges ist von charmanter Krudität, was die Autoren in mit poetischem Pragmatismus ohne Rücksicht auf ihre systemkonformen Lippenbekenntnisse zur Kleinbürger-Verhunzung und sozialistischen Parteilichkeit mit für das DDR-Publikum verständlicher Methodik ad absurdum führten. Alles kann die erste Wiederaufführung eines derart subtilen Stückkosmos auf’s erste nicht leisten. Es geht um den Exorzismus am gleichermaßen bestätigten und mit feinsten dramaturgischen Zutatenmischungen aufgestylten Kleinbürgergeist, der stückimmanent und historisch nicht ganz plausibel der agierenden wilhelminischen Mittelschicht angedichtet wurde. Kneifel stellte, ganz ewiger Tänzer zwischen Polka und Paso Doble, musikalische Behauptungen auf – und verwarf sie beim nächsten Taktwechsel lüstern wie raffiniert. Das hört man den ganzen herzhaft beschwingten Abend.

Musikalische Leitung: Christoph-Johannes Eichhorn – Inszenierung, Licht, Sprecher: Cusch Jung – Choreografie: Mirko Mahr – Bühne: Frank Schmutzler – Kostüme: Franka Lüdtke – Orchester und Ballett der Musikalischen Komödie Leipzig – Emanuel Striese, Theaterdirektor: Milko Milev – Prof. Martin Gollwitz: Michael Raschle – Paula: Nora Lentner – Emil Sterneck, Schauspieler: Vikrant Subramanian – Dr. Leo Neumeister: Andreas Rainer – Bella della Donna: Theresa Maria Romes – Martha Striese: Angela Mehling – Friederike Gollwitz: Anne-Kathrin Fischer – Marianne: Anna Evans

Annotation:

Musikalische Komödie im Westbad – Premiere Fr 18.09., 19:30 (besuchte Veranstaltung) und Sa 19.09., 19:00 – So 20.09., 15:00 – Sa 26.09., 19:00 – So 27.09., 15:00 (weitere Vorstellungen in Vorbereitung) – Karten: + 49 (0)341 – 12 61 261 / Abendkasse Westbad ab eine Stunde vor Beginn: Fon + 49 (0)341 – 86 09 40 76 – Online – bekannte Vorverkaufsstellen

Credits:

Foto:

veröffentlicht 19.09.2020

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