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euro-scene: Ziemliche Zumutung

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PUT YOUR HEART UNDER YOUR FEET … AND WALK! – Gastspiel von Steven Cohen (Frankreich)

In deutscher Erstaufführung und in Zusammenarbeit mit den Berliner Festspielen wird ein Doppelabend mit Steven Cohen zur euro-scene präsentiert. Der zweite Part SPHINCTÉROGRAPHIE + DEFACE wird an morgigen Sonnabend, 11.11.2023 im Ballsaal des Lindenfels präsentiert. Hier Eindrücke vom ersten Auftritt im Schauspielhaus

Von Moritz Jähnig

Beim Einlass wird gewarnt: Wenn Du eher rausgehst, kannst Du nicht wieder in den Saal zurück. Hallo? Bei einem Stück mit 55 Minuten Spieldauer? Warum sollte man eher rausgehen?

Dass die Warnung nicht unberechtigt war, zeigte sich später. Zuerst sieht man die aufgeräumte Bühne. Sorgfältig sind 62 Paar zertanzte Schläppchen aufgereiht. Links ein dreiständeriges Gestell. An dem hängt an schweren Ketten ein „Bauchladen“, wie ihn Hot-Dog-Verkäufer auf dem Rummel umgeschnallt haben. Nachher wird sich der Performer den „Bauchladen“ umhängen und die vier darauf verbauten Grammophone eins nach dem anderen in Gang setzen. Ein Potpourrigemenge aus Schlagern der Schelllack-Platten-Zeit klirrt auf.

Rechte Bühnenseite ein goldener Barock-Tisch und üppige Kandelaber. In dieser Szenerie wird sich der make-up-mäßig hinduistisch anmutende Performer dann Platz nehmen und eine dem christlichen Abendmahl und dem jüdischen Speiseregeln ähnelnde Zeremonie abhalten. Er isst die Asche seines verstorbenen Freundes, um sie wieder dem Kreislauf der Fruchtbarkeit und des Lebens zu zuführen.

PUT YOUR HEART UNDER YOUR FEET … AND WALK! ist ein Requiem für den 2016 verstorbenen Tänzer Elu Kieser, Steven Cohens über alles geliebten Lebenspartner. Dessen romantischem Wunsch, als Paar für immer eins zu sein, entspricht er mit allen Registern spiritueller und körperlicher Symbolik, von Christentum bis Taoismus und mehr. Der in Frankreich lebende Performancekünstler aus Johannesburg evoziert Elus frühe Passion für den klassischen Tanz und macht symbolisch seinen eigenen Körper zu dessen letzter Ruhestätte, nach 20 Jahren erfüllter Beziehung in Kunst und Alltag.

Aus dem Festival-Programm

Hauptschauplatz ist die Bühnenrückwand, auf die ein Video projiziert wird, in dem der Künstler in Kostüm und Maske durch einen Schlachthof tanzt. Er kost die hängenden Leiber der Rinder. Er wälzt sich im Blut. Man sieht realistisch, wie die Rinder erschossen und zerteilt werden. Man hört ihre Schreie und sieht ihre Angst. Die weiße Tänzergestalt legt sich unter die ausblutenden Körper, beschmiert sich, lässt die austretende Lebenssäfte der noch zuckenden Tiere über sein Gesicht laufen.  

Auch real betritt Steven Cohen die Bühnenlandschaft als tuntige Sylphide im Tutu. Enervierend langsam steigt er dabei auf hohen Kothurnen über die in Reih und Glied angetreten Artefakte eines Künstlerlebens.

Die antiken Theaterschuhe symbolisieren bei ihm zwei Särge, die dann links und rechts der Bühne aufstellt werden. Damit ist das Signal gesetzt. Wir wohnen einer Totenfeier bei. Das Zeremoniell ehrt den von wenigen Jahren verstorbenen Partner Cohens. Seinem Gedenken widmete der in Südafrika geborene weiße, schwule und jüdische Künstler seine 2017 in Monpellier uraufgeführte Performance PUT YOUR HEART UNDER YOUR FEET … AND WALK!

Steven Cohen wird von der Scene für seine Provokationen gefeiert. Das Provokationspotenzial seiner Installationen ist maßlos. Die Theaterbühne ist für ihn nicht „Ort, an dem man vorgibt etwas zu sein oder an dem man Worte spricht, die einem vorgegeben wurden“, so Cohen 2023. Die Bühne sei eines der privilegiertesten Heiligtümer für eine ehrlich und kraftvolle Verbindung.

In der von uns im Großen Saal des Schauspiels Leipzigs erlebten Vorstellung funktionierte die gewünschte Verbindung nicht. Es gab kurzen höflichen Beifall, ohne dass der Künstler erschien und ihn entgegennahm. Alle Zuschauer verließen den Saal sichtbar eilends. Jeder kauten vermutlich für sich an dem inkommensurabel Brocken, den Cohen hingeworfen hatte. Negativ hat die gewünschte Verbindung geklappt.

Zum Programm

https://euro-scene.de/programm/

Credits

Deutsche Erstaufführung präsentiert in Zusammenarbeit mit Berliner Festspiele

Besuchte Vorstellung 9.11.2023; veröffentlicht 10.11.2023

Text: Moritz Jähnig, freier Theaterkritiker und Herausgeber, Leipzig

Fotos: © Allan Thiebault

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