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euro-scene: The Ghosts Are Returning

euro-scene: The Ghosts Are Returning

Gastspiel GROUP50:50 (Deutschland/D.R Kongo/Schweiz) in der Schaubühne Lindenfels.

„The Ghosts Are Returning“ ist zeitgenössisches bzw., wie es sich selbst nennt, postdokumentarisches Musiktheater, das sich zuerst einmal zu jeder Kategorisierung, ob inhaltlich oder formal, quer legt. Das tut gut. Das macht es aber seinem jubelnden Publikum nicht einfach.

Von Moritz Jähnig

Die Vorgeschichte steht im Programmheft: 1952 schnürte nach längerem Arbeitsaufenthalt in der kongolesischen Provinz Ituri der Schweizer Arzt Boris Abé sein Gepäck und überreichte in Genf seine Mitbringsel dem Lehrstuhl für Anthropologie: sieben menschliche Skelette. Leichenschändung im Namen der Wissenschaft, in diesem Fall verbrämt durch die vermeintliche Zustimmung der Angehörigen. Die bezweifelt heute die Universität Lubumbashi, der die noch immer in Genf aufbewahrten Körper seit 2019 überschrieben sind. Die Mitglieder der Group50:50 haben sich auf die Suche nach den Nachkommen gemacht. Die Skelette – und damit die Geister ihrer Ahnen – sollen in die Heimat zurückkehren. Das Volk der Mbuti ist selbst von verschiedensten Seiten existenziell bedroht.

Die sieben beteiligten Künstler entwickelten gemeinsam mit den Mbuti singend und tanzend ein Ritual für die sieben Geister – in der Hoffnung, dass diese damit Frieden finden. In eindrucksvollen Videos werden die Kontaktaufnahme und rituelle Tanzszenen gezeigt. Die technischen Möglichkeiten werden phantasievoll für das Theater genutzt, wenn im Stück quasi live vom Ballsaal ein Interview im Urwald bei der Stadt Wamba geführt wird.

Als Theater sind das rund 90 Minuten Musik, Gesang, Monolog, Sprechgesang, Percussionwirbel. Auf die musikalische-kompositorischen Seite muss andernorts eingegangen werden. Wir schauen nach dem Theatralischen. Es gibt nur einen fast unmerklichen Kostümwechsel. Dafür verändert ein genial zu nennendes Lichtdesign ständig die Dimension der medial erweiterten Spielebene. Mal ist sie eng und mit technischem Kram unübersichtlich vollgestellt. Das Auge sieht manchmal durch Nebelschwaden nicht gleich durch. Sprachgewirr, stimmliche Klangwechsel. Das Ohr darf keinen Moment unkonzentriert sein, um nicht den Faden der faktenreichen Geschichte zu verlieren.

Schließlich öffnet sich der Bühnenraum ungeheuer hoch und weit. Es ist, als tanzten die sieben Performer jetzt im Augenblick gemeinsam mit den Familien der Toten unter den Sternen des kongolesischen Nachthimmels. Sehr suggestiv. Wirkungsmächtig bindet die Projektion die alte Konzertmuschel im Ballsaal optisch ein. Und hier kulminiert das Thema plötzlich noch einmal neu und überraschend. Es entsteht der vielleicht wichtigste Effekt dieses Gastspiels. Der um 1900 errichtete und bis heute original erhaltene „Gesellschaftsgarten“ beginnt geisterhaft mitzuspielen. Krass ernüchternd springt uns unsere persönliche Nähe zu den wirtschaftliche getriebenen Kolonialverbrechen in Afrika in der Zeit von einem Karl Heines bis heute an. Wir befinden und gemütlich im Unterhaltungstempel der industriellen Gründereliten dieser kolonial geprägten Zeit. Die alte Schaubühne beschwört unsere eigenen Geister herauf.

„The Ghosts Are Returning“ ist eine künstlerische, multimedial und muliperspektivisch formulierte Anklage und ein verzweifelter archaische Klagegesang, der der individuellen Probleme durch Geisterbeschwörung beizukommen versucht. Letzteres ist nicht jedermanns Sache.

Nach dem Stück sucht man beim Hinausgehen nach dem Topf mit dem Alleskleber. Man möchte seine Hand hineinzustecken, um sich an die hölzerne Wandtäfelung in seiner Lieblingskneipe mit Deutscher Küche zu kleben und bei zwei, drei Hefeweizen weiter nachzudenken.

Annotation

„The Ghosts are returning“ ist eine Produktion von PODIUM Esslingen mit der Group50:50, dem Centre d’Art Waza Lubumbashi und den European Alternatives, in Koproduktion mit CTM Festival Berlin, euro-scene Leipzig, Kaserne Basel und Vorarlberger Landestheater

Regie: Christiana Tabaro, Eva-Maria Bertschy, Michael Disanka und Elia Rediger. Komposition und Musikalische Leitung: Kojack Kossakamvwe und Elia Rediger. Text: Christiana Tabaro, Eva-Maria Bertschy, Michael Disanka, Patrick Mudekereza, Ruth Kemna und Elia Rediger. Dramaturgie und Diskurs: Eva-Maria Bertschy und Patrick Mudekereza. Bühne und Ausstattung: Elia Rediger, Christiana Tabaro, Michael Disanka und Janine Werthmann Regieassistenz: Luca Maier Video: Moritz von Dungern, Joseph Kasau und Elia Auf der Bühne: Ruth Kemna (Bratsche und Performance), Christiana Tabaro (Gesang und Performance), Huguette Tolinga (Perkussion), Kojack Kossakamwve (Gitarre), Franck Moka (Elektronik und Performance), Merveil Mukadi (Bass), Elia Rediger (Gesang und Performance)

zur Group50:50: www.podium-esslingen.de und www.group5050.net

zum Programm euro-scene Leipzig: www.euro-scene.de

Credits

Text: Moritz Jähnig, freier Theaterkritiker und Herausgeber, Leipzig

Fotos (3):  © Kathrin Heller

besuchte Vorstellung 10.11.2022 (2); veröffentlicht 11.11.2022

weitere Vorstellungen: 3./4.2.2023, CTM Festival Berlin; Anfang Februar Tournee in der DR Kongo

Foto zur Dokumentaion aus dem Programmheft
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