Jörg Widmanns Oper “Babylon” in einer revidierten Fassung an der Staatsoper Unter den Linden
Der allererste Composer-in-residence (Spielzeit 2017/18) des Gewandhausorchesters ist in seinen Bühnenwerken ein bekennender Eklektiker. Nach der Schuloper „Absences“, die er 1990 als Gymnasiast für die Münchener Biennale komponierte, „Das Gesicht im Spiegel“ (München 2003, bearbeitet Düsseldorf 2010) und dem Musiktheater „Am Anfang“ (Paris 2009) erhielt Jörg Widmann (geb. 1973) zur Oper „Babylon“, für deren Libretto er sich des Beistands von Peter Sloterdijk versicherte, einen Kompositionsauftrag der Bayerischen Staatsoper. Beide räumten gründlich auf mit den verdammenden Zuschreibungen an die „große Hure Babel“ und den durch die Beschreibungen in der Heiligen Schrift manifestierten Negativbildern. Wenn die Liebespriesterin Inanna den Juden Tammu aus der Unterwelt holt, ist die Analogie zum später entstandenen Orpheus-Mythos erkennbar. „Babylon“ wirkt wie die Bühnenvision von Chancen und Risiken einer heutigen multikulturellen Diversifizierungsethik, inbegriffen die „Menetekel“ durch Naturkatastrophen und Konflikte von innen. An der Berliner Staatsoper Unter den Linden erlebte das nach der Münchner Uraufführung 2012 umjubelte und von manchen Seiten als moussierend ausladend betrachtete Werk in einer revidierten Fassung eine Neuproduktion.
von Roland H Dippel
So unterhaltsam ist ein musiktheatrales Spiel über gesellschaftlichen Wandel inklusive Mythen-Collage sowie Relativierung und Korrektur vermeintlich bekannten Bildungsguts selten. Nach der umjubelten Uraufführung von „Babylon“ am 25. Oktober 2012 im Nationaltheater München, damals geleitet von Kent Nagano, waren sich Jörg Widmann und Daniel Barenboim schnell einig, dass die über dreistündige Oper für die Berliner Staatsoper verknappt und konzentriert werden sollte. Für den erkrankten Generalmusikdirektor der Staatskapelle Berlin übernahm Christopher Ward, der 2012 an der Einstudierung beteiligt war, die von ihm mit farbenfrohem Brio befeuerte musikalische Leitung. Andreas Kriegenburg fand zu einer ganz anderen Lesart als die mehr die mythisch-symbolischen Schichten der Oper illustrierende Visualisierung von Carlus Padrissa – La Fura dels Baus in München. Peter Sloterdijks optimistische, ja freudvolle Umkehrung des traditionellen Blicks auf den kulturellen Zenit des Zweistromlands, die babylonische Gefangenschaft Israels, die überlieferten Mythen und deren Kompilation in den frühen biblischen Schriften inspirierten Kriegenburg zu einer handfest glühenden und nur in den rituellen Verstrickungen blutigen Realisierung.
Sinnliche aufgeladene Multikulturalität
„Babylon“ zeigt beileibe kein babylonisches Tohuwabohu, sondern das Zusammenleben eines bunten Vielvölkergemischs, in dem die Juden ihre Religion legitim praktizieren. Auf der Bühne der Lindenoper ist das Modell Babel, mehr heutiges Atlantis als Mahagonny, selbst ein Turm: Harald Thor ließ sich zu seinen übereinander geschichteten Wohn- und Begegnungszellen, die von der Bühnentechnik beeindruckend nach oben und unten gefahren werden, durch die 192 Meter hohe „Torre de David“ in Caracas inspirieren. Das nie vollendete Bankgebäude wurde längst als Lebensraum mit eigenen Gesetzen erobert. In einer Nische findet sich das berühmte Ischtar-Tor, in anderen Monumente aus der 4000-jährigen Kulturgeschichte der Menschheit bis hin zu Gemälden im Still Chagalls.
Neu in Widmanns revidierter Fassung sind neben vielen Strichen, Übergängen und Verschlankungen vor allem die riesige, imponierend melodiöse Arie für den personifizierten Fluss Euphrat (gesungen auf Weltrang-Niveau von Marina Prudenskaya) sowie die umfängliche Neugestaltung des dritten Bildes mit dem optimistisch ausschweifenden Freudenfest nach der Sintflut. Eine inhaltliche Umdeutung des Spielgeschehens bringt Widmann seinem Anspruch einen gewaltigen Sprung näher: Das „Maximum an Gleichzeitigkeit“, die das babylonische Reich mit der Gegenwart für ihn gemeinsam hat, erzielt er musikalisch und dramatisch, indem der vom babylonischen Priesterkönig (John Tomlinson) wie ein Sohn geliebte Hebräer Tammu nicht nur die Flutkatastrophe, sondern die gesamte Handlung einschließlich seiner ehrenvollen Opferung und Befreiung aus dem Totenreich durch die von ihm geliebte Priesterin Inanna als einen einzigen langen Traum erlebt. Ein Traum bleiben damit auch die Entrückung der Seele (Mojca Erdmann), Tammus erster Geliebter, zu einem Symbol für alle in Babylon und der neue Kinderspruch, der am Ende der Oper die reformierte Ordnung der Welt bekräftigt. So ähnlich sind sich die erst leibliche, am Ende entmaterialisierende Seele und die sinnliche, aber keineswegs nuttige Inanna, dass Widmann das Lied auf die berühmten Versen „Wohin du gehst“ aus dem alttestamentlichen Buch Ruth der Seele entreißt und der Liebespriesterin als Herzstück seiner Oper zustecken kann.
Nichts in dieser babylonisch-hebräischen Welt ist so weiß wie das blütenweiße Unschuldskleid der Seele. In den mit nahöstlichen Assoziationen spielenden Kostümen von Tanja Hofmann entfesselt Kriegenburg eine prall ausagierte Szenenfolge, die allen Vorstellungen von restriktiven Sozialgefügen zuwider läuft. Gruppen um die Freudenspenderin Inanna beben vor überbordender erotischer Energie, die allen vitale Sinnlichkeit atmenden Statisten-Poren entströmt. Der mit ruhigen Bewegungen immer in der Mitte des Geschehens stehende Hebräer Tammu (Charles Workman in perfekter Ausgeglichenheit zwischen emotionalem Legato und Evangelisten-Sprödigkeit) bleibt zweieinhalb Stunde im Zentrum der Aufmerksamkeit mit Ausnahme jener Szene, in der Otto Katzameier ihm als („Schwester“) Tod mit Nachdruck den Rang abläuft.
Karneval und Katastrophen
Auffallend: Kriegenburgs Regie ist immer so lange inspiriert, bis Widmanns Kompositionen mit ihrer über weite Strecken faszinierenden Instrumentation und der Chor im musikalischen Farbrausch ohne sich konkretisierende Klangassoziationen bleiben. Packendes und mit wenigen Entgleißungen hochwertiges Blendwerk hört man an diesem Abend. Der von einem 25-stimmigen Geflecht zu einem Solo der Seele mit zwei Soloviolinen abschwellende Einleitungschor, das virtuose und lyrische Fluoreszieren der beiden hohen Sopran-Partien Seele und Inanna (Susanne Elmark), sogar die melodramatisch behandelten Szenen des Priesterkönigs und des Propheten Ezechiel (Felix von Manteuffel), der in seiner Niederschrift der hebräischen Sintflut-Version ein Menschenopfer durch den blutlosen Bund Gottes mit den Völkern ersetzt.
Kriegenburgs Umsetzung der Feier des babylonischen Karnevals erlahmt allerdings, wenn Widmann seinen sich erlesen gebärdenden Eklektizismus in die Grobheit eines über Minuten erstreckenden Paraphrase des Bayerischen Defiliermarschs überführt. Bitonal und deshalb mit noch mehr Krawall als auf dem Oktoberfest. Das kann man in der melodramatisch, rezitativisch und arios packend filigran aufgefächerten Szene Inannas und des Todes, von dem sie sich Tammus Rückkehr ins Leben erlistet, noch vergessen. Dieser Dialog ist der Höhepunkt der Partitur. Doch am Beginn der chorischen Reprise des von der Seele auf Inanna übertragenen stillen Verses „Mein Gott ist dein Gott“ rinnt als Symbol der Verbrüderung ein buntes Band durch die Hände der Chormassen im Schneidersitz. Fülle und Überfülle des Mysteriums werden durch einen musikalischen Geröllsturz auf einmal leichtgewichtiger Wust.
So groß ist das Reservoir an Werken mit einer weltumfassenden Dimension nicht. In die Ahnenreihe von Widmanns „Babylon“ gehören Wagners „Ring“ höchstwahrscheinlich, Strauss‘ „Frau ohne Schatten“ und „Salome“ mit ihrer charismatischen Behandlung der hohen Frauenstimmen und ihrer Begleitung gewiss. Doch diese Opern stehen in einem ästhetisch oppositionellen Spannungsfeld zur Musik ihrer Entstehungszeit. Aus Jörg Widmanns und Peter Sloterdijks „Babylon“ erfährt man dagegen neben einer spannenden Durchleuchtung und Hinterfragung des Topos „Babylon“ anregend viel über Muster und Funktionalisierungen von Musik im frühen 21. Jahrhundert. Am Veredelungsverfahren dieses Musiktheater-Produkts haben das hochkarätige Solistenensemble mit dem in stratophärische Höhen getriebenen Knabensopran Arne Niermann, der hervorragende Chor unter Martin Wright und Anna Milukova sowie die sich hochgemut in die Wechsel von Fluten und Ebbe werfende Staatskapelle einen wesentlichen Anteil.
Annotation:
Deutsche Staatsoper Unter den Linden – Mo 11.03.2019, 19:30 – Premiere war Sa 09.03.2019 – weitere Vorstellungen: Mi 20.03.2019/19:30 – Fr 22.03.2019/19:30 – So 24.03.2019/18:00; veröffentlicht: 13.03.2019
Credits:
Foto v.l. Susanne Elmark (Inanna), Charles Workman (Tammu) und Ensemble; © Arno Declair