Afterkunst und Hochkultur – Die MuKo lässt „Die Kinokönigin“ hochleben
Die geliebtesten Zuschauer sind ja diejenigen, die nach dem dritten Klingeln in die Reihen hecheln und sich lautstark amüsiert fühlen, wenn sie dem weiteren Publikum missfallen. Solch woke Bagage stürmte denn sonntagnachmittäglich die zweite Vorstellung der „Kinokönigin“ und nahm Platz in Reihe zwölf, maulte belustigt über das banale Bühnengeschehen und die Zuschauer, die sich davon frohstimmen ließen. Alles wieder beim Alten: Sich erhaben fühlende Kulturmenschen, die das Triviale belächeln, hat es immer gegeben. Auch auf der Operettenbühne wird man ihrer ansichtig.
Von Henner Kotte
Rüdiger von Perlitz macht in Politik und weiß, dass Kino nur Afterkunst ist. Bühnenbarde Viktor Mathusius dagegen ist Hochkultur, dumm nur, dass der Mime mittlerweile auch beim Film engagiert ist. Da muss sich Delia Gill, „Die Kinokönigin“, mühen, um die Kulturpolitik von der neuen Kultur zu überzeugen. Gut, dass sie auf Perlitz‘ Gattin trifft: Die Frauenbewegung kann manches ändern. Perlitz‘ Töchterchen liebt den Revolutionär Edelhardt von Edelhorst, Delia den Viktor. Doch der wird inkognito und in flagranti mit eben dem Töchterchen erwischt. Da kann nur eine Heirat folgen! Bei solchen Misslichkeiten hat’s der Filmregisseur schwer, zu einem Happy Ende zu gelangen. Aber wie’s Operetten so eigen, findet das Herz zum Herzen und Melodien spielen die Gefühlsklaviatur rauf und runter (treffen allerdings nicht die von Reihe zwölf). Herr von Perlitz entsagt seiner politischen Karriere und muss sich seiner Lust am Filmgeschehen nimmer schämen. Die Kulturenthusiasten von Reihe zwölf erlebten des Helden Wandlung nicht mehr, sie hatten in der Pause dem weiteren Geschehen entsagt. Andre würden’s Ignoranz nennen.
Man muss Leipzigs Operettenbühne zugestehen, dass sie mit Gespür und Lust und Laune das Kulturgeschehen der Stadt bereichert: Keine philosophisch drögen Texte, keine wiederholten Apelle ans Gewissen, kein l’art pour l’art für Eingeweihte (Reihe zwölf hatte wohl genau das erwartet). Die letzten Inszenierungen des Hauses zeugten von Entdeckergeist und Mainstreamverständnis, sie sprühten vor Ideenreichtum und Witz, und alle Mitwirkenden steckten das Publikum mit ihrer Spielfreude an. Das war diesmal nicht anders. Man gab „Die Kinokönigin“ Jean Gilberts aus dem Jahre 1912. Die selten gespielte Operette lässt die beginnende Stummfilmzeit aufleben, zeigt aber auch Kunstunverständnis, Frauenrecht, Starkult und Politikverdrossenheit. Regisseur Andreas Gergen hat die olle Geschichte sehr gegenwärtig im Griff. Stephan Prattes schuf mit seinem Bühnenbild und -treppen Filmstudioatmosphäre. Perfekt ergänzen sich da Glamour, Leinwand und Realität. Maske, Gestik und Kostüme orientieren sich an den stummen Leinwandgrößen. Mirko Mahrs Choreografie zitiert das verruchte „Cabaret“. Und Stephan Klingeles musikalische Leitung ließ Omas Kintopp so frisch erklingen, dass man die Musiker im Graben gar lächeln sah. Ach, Gottchen, war’s schön!
Nun würde ja weder Film noch Bühne ohne Darsteller beeindrucken können: Ein Lob diesem Kinokollektiv: Milko Milev verleiht Perlitz, dem Politiker und Filmbanausen, Monokelcharme und Stimme. Mirjam Neururer glänzt mit verschatteten Augen. Anne-Kathrin Fischer zeigt sich im Korsett bürgerlich engagiert. Jeffrey Kruegers Jungencharme fällt man zum Opfer. Vikrant Subramanian veredelt den edlen Edelhardt von Edelhorst. Und Andreas Rainer als (Film-)Regisseur bleibt ob der exaltierten Mischpoke nur das laustarke Seufzen. Im Haus der heiteren Muse wird purer Freude applaudiert und applaudiert. Die Gassenhauer summt man noch auf dem Wege zurück ins traute Heim. Echt schade für die Verständnislosen von Reihe zwölf.
ANNOTATION
„Die Kinokönigin“. Operette in zwei Teilen von Jean Gilbert. Text von Georg Okonkowski und Julius Freund. Neufassung von Robert Gilbert und Per Schwenzen. Musikalische Komödie Leipzig
Mitwirkende: Delia Gill – Lilli Wünscher, Auguste – Anne-Kathrin Fischer, Annie – Nora Lentner, Rüdiger von Perlitz – Milko Milev, Viktor Mathusius – Adam Sanchez, Edelhardt von Edelhorst – Vikrant Subramanian Emil Pachulke – Mathias Schlung, Eichwald – Andreas Rainer, Kellner Krause, Wurst-Maxe – Uwe Kronberg, Lehmann, Kameramann – Mirko Mahr, Lehmann, Kameramann – Alexander Range
Premiere 9.4.2022, besuchte Vorstellung 10.4.2022, veröffentlicht 15.04.2022
weitere Vorstellungen 17.4., 1.5., 14.5., 15.5., 11.6., 12.,6., 5.7., 14.7., 15.7.2022
CREDITS
Fotos (3): © Tom Schulze
Text: Henner Kotte, freier Theaterkritiker und Autor, Leipzig