„Eugen Onegin“ am Theater Gera/Alteburg.
Einige schwören bei Tschaikowski auf die russische Originalsprache oder Speziallösungen wie die russisch-deutsche Inszenierung Peter Konwitschnys von „Eugen Onegin“ an der Oper Leipzig. In Gera spielt man Tschaikowskis bekannteste Oper in der deutschen Übersetzung von Wolf Ebermann und Manfred Korth. In der fast ausverkauften Vorstellung am Sonntagnachmittag (9.2.2020) wurde die affektiv packende Produktion mit Ovationen gefeiert. Eine individuelle Sichtweise auf die „Lyrischen Szenen“ nach Puschkin.
von Roland H Dippel
Ein riesiger Erfolg auch in der zweiten Vorstellung der „Eugen Onegin“-Produktion im Theater Gera. Gespart wurde in der offenen Akustik des Hauses nicht an manchmal zu direkten Orchesterwirkungen unter dem bald auf eigenen Wuschen scheidenden Generalmusikdirektor Laurent Wagner, für dessen Position die Probedirigate mit dem Österreicher Philipp Pointner im Symphoniekonzert am 12., 13., 14. Februar in die nächste Runde gehen. Prächtig geraten die vitalen Auftritte des Chores (Einstudierung: Gerald Krammer) und der Eleven des Thüringer Staatsballetts, die nach der eisig-klassischen Polonaise als Todesfiguren den vereinsamten Dandy Eugen Onegin umlagern (Choreographie: AnnaLisa Canton).
Generalintendant Kay Kuntze hat sich mit großer Sorgfalt auf die von Studierenden des Moskauer Konservatoriums 1879 uraufgeführten lyrischen Szenen Tschaikowskis vorbereitet. Ihm und allen Beteiligten gelingt eine bezwingende, aber nicht immer gefällige Lesart der Oper. Nur auf den ersten Eindruck wirkt die akustische Seite der Aufführung vergröbert. Lauten Ensemblewirkungen steht eine sehr feine und intime Gestaltung der berühmten Arien gegenüber. Ulrich Burdack nimmt Fürst Gremins Arie spannend zurück statt aufrauschend. Nur Heain Youn bleibt der zwar nicht allzu großen, doch wichtigen Partie von Tatjanas Schwester Olga etwas Nachdruck schuldig.
Drei große bewegliche Holzrahmen hat Martin Fischer gebaut, die Einblicke in Landleben, standesgemäße Vergnügungen des Gutsadels und der Petersburger Eliten freigeben – vor allem aber den Blick auf Psychostudien von Ausbruchsversuchen junger Menschen bannen. Am Ende bleiben nach einem flüchtigen, dafür umso brennenderen Kuss die anfangs schwärmerische Tatjana und der vom Leben zerfurchte Onegin allein, wird dieser vom Nebel verschlungen wie Mozarts Don Giovanni von den Flammen der Hölle. Im Mittelakt dominiert Isaac Lee als Möchtegernpoet mit gestörtem Selbstwertgefühl. Sein Lenski gerät also nicht zum tenoralen Strahlemann, zeigt dafür viele Schattierungen´von sentimentalem Schmelz im akuten Wechsel mit sensibler Belegtheit. So geraten die vertrauten Momente mit Olga noch beeindruckender als die Duellszene mit dem für Lenski tödlichen Ausgang. Tatjana wird mit dem in den letzten Monaten nochmals an Glanz und Durchschlagskraft gewachsenem Sopran von Anne Preuß zum Zentrum des ersten Akts. Der Liebesbrief an Onegin erscheint in projizierten Schriftzügen auf Wänden wie das Menetekel einer bösen Zukunft, ihr Frühlingserwachen durchlebt Tatjana in der berühmten Briefszene bis zur erotischen Erschöpfung. Vor der Duellforderung reißt sie später das große Ensemble durch vokales Können an sich und setzt im für ihren Partie eigentlich weniger ergiebigen Schlussakt nochmals bewegende Steigerungen. Eine großartige Leistung.
Fast ebenbürtig der Onegin von Alejandro Larraga Schleske, der bis Lenskis Tod weitaus weniger unsympathisch wirkt als oft erlebt. Seine Arie mit der Abfuhr an Tatjana artikuliert Schleske emotional, agiert dafür auf den Bruch mit dem Freund Lenski neutraler. Dieser Onegin provoziert nicht und nützt den perfekt sitzenden Anzug als Gefühlskorsett. Der Frack passt dem am Ende leicht Ergrauten nicht mehr und muss deshalb leicht aus der Form geraten. Schleske und Preuß sind ein ideales verhindertes Paar. Um dieses verweigert die Neuinszenierung eine elegisch-elegante Realisierung und greift dafür den Spott aus Puschkins Versroman, der literarischen Vorlage, auf.
Weniger in der Reibung von als ungenügend betrachteten Lebensverhältnissen und individueller Selbsterkundung als im kontrastreichem, fast beißendem Kontrast von Alt und Jung: Die Gutsbesitzerin Larina (Persönlichkeit zwischen Zuwendung, Resignation und Alkohol: Carolin Masur) freut sich an Flirt und Balz der Jungen. Für die altersbedingt begriffsstutzige Amme Filipjewna (Eva-Maria Wurlitzer mit intakter Mezzo-Vitalität) sind Gaumenfreuden der Sex des Alters. Was für eine Analogie zum Heute: Der zwar verzopfte, aber freizügige Monsieur Triquet (Florian Neubauer) hat griffig-direkte Umgangsformen, welche die junge Generation verschrecken. Immer wieder gibt es in Fischers Bilderrahmen aus der Genremalerei des 19. Jahrhunderts vertraut wirkende Posen. Da wollen sich die gereiften Nicht-mehr-Bestager um keinen Preis mit der beschworenen Macht der Lebensgewohnheiten abfinden und partizipieren mit Handicaps an jenen Liebesfreuden, welche sich die Jungen durch tödliche Vermeidungsstrategien und nie vernarbende Seelenwunden verbauen. So zieht Kuntze die von Tschaikowski ignorierte Häme Puschkins in seine Inszenierung. Unschön, aber nicht unwahrhaft wird das, weil die Ironie mehrfach die Grenzen zur Karikatur überschreitet und Tschaikowskis melancholisch-verzweifelnder Lyrizismus in Gera durch das erst ungeschliffene, aber dann brillante Philharmonische Orchester Altenburg-Gera umso attackierender gerät. Also mehr versierte Laubsäge-Arbeit als anämische Salon-Poesie. Tschaikowski gerät in die Nähe Emile Zolas und jenes materialistischen Naturalismus, der Liebesgefühle als Phänomen aus physisch-anatomischen Prozessen ableitet. So ist auch die am Anfang extrovertierte Schroffheit der musikalischen Seite plausibel: Tschaikowski gibt an ihrem Dasein leidenden Seelen (nicht nur den russischen) eine melancholische, ja tieftraurige Stimme. Daran führt in diesen drei eindringlichen Stunden kein Fluchtweg vorbei. Eine auch auf den zweiten Blick aufschlussreiche Aufführung mit oft vernachlässigten Seitenaspekten.
Annotation:
Musikalische Leitung: GMD Laurent Wagner – Inszenierung: Kay Kuntze – Bühne und Kostüme: Martin Fischer – Choreinstudierung: Gerald Krammer – Choreografie: AnnaLisa Canton – Dramaturgie: Felix Eckerle – Larina: Carolin Masur – Tatjana: Anne Preuß – Olga: Heain Youn – Filipjewna: Eva-Maria Wurlitzer – Eugen Onegin: Alejandro Lárraga Schleske – Wladimir Lenski: Isaac Lee – Fürst Gremin: Ulrich Burdack – Hauptmann/Saretzki: Kai Wefer – Triquet: Florian Neubauer/Timo Rößner
Credits:
07.02./19:30 – Besuchte Vorstellung: 09.02./14:30 – wieder am: Sa 15.02./19:30 – Fr 20.03./19:30 – Sa 17.05., 18:00 – Karten: Tel. 0365-8279105, kasse@theater-altenburg-gera.de und EVENTIM