Puccinis Oper in der letzten Fassung 1905 mit der Berliner Operngruppe.
Für spannende Oper braucht man nur wenige Requisiten, konditionsstarke Stimmen und viel Leidenschaft. Das alles hat die Berliner Operngruppe, die seit ihrem Debüt mit Verdis „Oberto“ 2010 erst im Radialsystem und seit einigen Jahren im Konzerthaus am Gendarmenmarkt jedes Jahr ein für Berlin neues Werk nach intensiven Kompaktproben in nur einer einzigen halbszenischen Aufführung vorstellt. Verführerische Titel wie Donizettis „Maria di Rohan“, Bellinis „Beatrice di Tenda“ oder Verdis „Giovanna d’Arco“ (Die Jungfrau von Orléans, 1918) lassen die Herzen der Enthusiasten höher schlagen und fordern zu feurigen Begeisterungsstürmen heraus. Förderer ist zum Beispiel Bertelsmann und die Kooperation mit dem Archivo Storico Ricordi zeigt sich auch in aufwändig bebilderten Programmheften.
von Roland H Dippel
Irrwitzig überhöhte Simplizität
Für Berlin ist Giacomo Puccinis zweite Oper, zuletzt zu hören zum Beispiel am Theater Regensburg und bei den St. Galler Festspielen 2018, noch neu: Diese schier unglaubliche Moritat nach Alfred de Mussets Lesedrama „La coupe et les lévres“ (Der Krug und die Lippen) von Textdichter Ferdinando Fontana übertrifft sogar turmhohe Vorurteile erklärter Opernhasser. Schon bei der Einführung wird man auf das Allerschlimmste vorbereitet. Aber gerade die bezwingend geradlinige und unprätentiöse Lesart der Berliner Operngruppe macht aus dem aberwitzigen Handlungssammelsurium einen packenden Abend.
Für die professionellen Musiker, Musikstudenten, ausgewählten Amateure ist Puccini Neuland und ganz anders als die bisher von der Berliner Operngruppe favorisierten frühen Verdi-Opern. Nach den übermäßigen Tonleitern des Beginns finden das Orchester und der erregend dynamische, dabei jugendlich-aktiv klingende Chor der Berliner Operngruppe gleich bestens zur mit Irrwitz überhöhten Simplizität von Giacomo Puccinis Gesellenstück.
Schwellenwerk zwischen spätem Verdi und Fin de siècle
Sie lassen sich nicht nur einfach in diese Partitur fallen. Der musikalische Leiter Felix Krieger entwickelt zum Glück auch nicht den Ehrgeiz, Puccini befremdend grobes Sturm-und-Drang-Stück nach den Meriten des reifen Meisters zu modellieren. Wenn man bedenkt, dass der 1889 an der Mailänder Scala uraufgeführte „Edgar“, den man in der von 145 auf 95 Minuten gekürzten Fassung von 1905 für das Teatro Colon de Buenos Aires spielt, nicht nach, sondern fast parallel mit Verdis „Otello“ entstand und damit eher zur Werkgruppe von Boitos „Mefistofele“ über „La Gioconda“ und Faccios „Hamlet“ (derzeit am Opernhaus Chemnitz) gehört, wird man diesem frühen Puccini weitaus besser gerecht. Dann ist er für Interpreten genau da, wo er hingehört – nämlich zwischen den liedhaft einfachen Formen des späten Verdi, dessen Orchestersprache Puccini hier imitiert und mit so manchen Catalani-Anklängen garniert, aber noch lange nicht bei den raffiniert-preziösen Ariosi in gemächlich fallender vokaler Hanglage, denen der Frauenversteher aus Torre del Lago später seine schmelzend kalkulierten Welterfolge verdanken wird. Das Orchester der Operngruppe modelliert Expression sogar aus Stellen, die etwas leer klingen könnten. Natürlich profitiert der Chor der Berliner Operngruppe auch von der versierten Einstudierung durch Steffen Schubert und steigert sich dann noch mehr, weil er ab und an in die szenischen Aktionen mit Blicken und Gesten einbezogen wird, etwa wenn das Unschuldslamm Fidelia mit sanften Gebärden zur Mandelblüte eilt.
Doch die lyrische Idylle des Beginns ist trügerisch, im hell erleuchteten Saal gibt es danach nur noch nachtschwarzes Drama: Manchmal angedeutet, manchmal verschmitzt und dabei doch immer genau in szenischen Rahmenbedingungen, die Puccinis bereits hier hitverdächtige Opernschlager nicht zu Lachschlagers ausarten lassen. Dieses Jahr ist Thilo Reinhardt der Spielleiter. Er verlegt die von Ferdinando Fontana aus Tirol entfernte und im flandrischen Spätmittelalter angesiedelte Handlung wieder vor in eine Kriegszeit des letzten Jahrhunderts. Blütenäste, Armeemesser, Champagner und einen Traueraltar – mehr braucht es nicht zum packenden Reißer. Beim „Komponisten der kleinen Dinge“, wie sich Puccini selbst nannte, wechseln schon hier prägnant Sadismus und Masochismus, wenn auch noch nicht in der Souveränität von „Schwester Angelica“ oder „Das Mädchen aus dem goldenen Westen“ (derzeit an der Oper Leipzig).
Elena Rossi und Peter Auty haben schon „Edgar“-Erfahrung. Doch sehr oft geben die Solisten wie Silvia Beltrami und Aris Argiris bei der Berliner Operngruppe anspruchsvolle Rollendebüts, die sie extra einstudieren und bedauerlicherweise so schnell nicht woanders nutzen können.
Rabiate Randale, schmelzende Soli
Es bleibt ein Geheimnis, mit welchen Beziehungen die Berliner Operngruppe jedes Jahr ihre guten bis sehr guten Ensembles zusammentrommelt, von dem hier nur der junge Bass David Oštrek (ausgerechnet in der Rolle des Vaters der armen Fidelia) aus dem Ensemble der Deutschen Staatsoper von nebenan kommt.
Für ihn sind die sängerischen Aufgaben noch die leichtesten in dem zwischen rabiater Randale und schmelzend schwebenden Soli angesiedelten Knallstück: Edgar hat nämlich keinen Bock mehr auf die bis zur Larmoyanz lammfromme und erst im Leidensdruck ansatzweise interessierende Fidelia. Aber auch die rasante Leidenschaft zum Vamp Tigrana (Nomen est omen) erschöpft ihn und er kollapiert unter brunftigen Tönen. Kicks in sein Leben bringt der spätere Kriegsheld Edgar nur noch, wenn er sein Elternhaus abfackelt und sich im Hinterhalt daran weidet, wie man seinem vermeintlichen Leichnam die letzte Ehre erweist. Diese Zeremonie sprengt er mit lästerlichen Reden, die er als Mönch verkleidet herausschleudert.
Die laszive Tigrana ist letztlich an allem schuld: Schwarzes Spitzencollier, knallrotes Kleid, ihren ersten Auftritt begleitet sie unmissverständlich mit ordinärer Lache! Silvia Beltrami bringt eine echte Verdi-Stimme und wilde Blicke für eine der ganz wenigen wichtigen Mezzo-Partien Puccinis mit. Wie schon 2018 ist es beeindruckend, dass die intensiv agierenden Solisten einerseits ganz deutliche Gesten für ihre übergroßen Emotionen haben, aber nie übertreiben. Man versteht an diesem Abend alles, sogar ohne Übertitel.
Expressiver Gesang mit Biss
Dabei genießen auch Elena Rossi, die Fidelia zuerst nur mit Verismo-Herbheit und fachtypischen Höhenschärfen zum etwas forcierten Brodeln bringt, und der mit verschwenderischen metallischen Spitzentönen aufwartende Tenor Peter Auty, dass sie einige stilsichere Fermaten einlegen dürfen und aus Deklamationen Melodien schmieden. So soll es in italienischen Opern aus den Jahren um 1890 auch sein! Inspirieren ließ sich Puccini in „Edgar“ zum Duell einer Raub- mit einer Kuschelkatze von den Konstellationen in „Tannhäuser“ einerseits, in „Carmen“ andererseits. Aris Argiris in der Rolle des nach schmachvoller Leidenschaft geläuterten Frank zeigt eine inzwischen auch beim Chemnitzer „Walküre“-Wotan bewährte große Linie mit imponierender Geschmeidigkeit.
Vier starke Stimm-Aktionisten machen also großes Drama. Diesmal ist die Gewichtung so verteilt, dass die Charakterisierung mehr auf Seite der Frauen, die starke Melodielinie eher auf Seite der Männer liegt. In glänzender Verfassung unterschätzen sie diese Oper an keiner Stelle: Hier sind Puccinis Anforderungen zackiger und sprunghafter als in den vokalen Gleitflügen von „La Bohème“ oder „Tosca“. Die sagenhaft sicheren hohen Töne (Gis? As?) und die brillante Rollentextur von Aris Argiris, die Mezzo-Fanfaren von Silvia Beltrami und die mit etwas Flackern, dann mit empathischer Energie dieses Puccini-Ungetüm meisternde Kollektive bleiben in befeuerter Erinnerung. Kein Wunder, dass viele Sänger der Berliner Opernhäuser im Publikum sitzen und mitjubeln. Kein Wunder, dass die Abende der Berliner Operngruppe für immer mehr Kulturenthusiasten zum Muss wird. Und kein Wunder, dass man spätestens im Spätsommer neugierig darauf wartet, welches Opernjuwel dieses einmalige Ensemble und Felix Krieger im nahenden Winter dem halben Vergessen entreißen werden.
Annotation:
Konzerthaus Berlin – Giacomo Puccini: Edgar (Fassung 1905) – Mo 04.02.2019, 19:30 ; Veröffentlicht: am 07.02.2019
Was noch: www.berlineroperngruppe.de
Was noch:
Aris Argiris als Wotan in „Die Walküre“: 19. April, 1. Juni im Rahmen der zyklischen Aufführungen von Richard Wagner „Der Ring des Nibelungen“
Bildquelle: © Bertelsmann