Staatsschauspiel für seine Wedekind-Inszenierung weiter mehrheitlich bejubelt
Frank Wedekinds Skandalstück „Lulu“ hatte 2023 in der Regie von Daniela Löffner Premiere am Dresdner Staatsschauspiel. In der Titelrolle ist Simon Werdelis (Foto oben r. mit Sven Hönig) zu erleben. Die Inszenierung polarisiert – interessant ist das Warum. Kontroversen, Bravi und vorzeitiges Verlassen der Vorstellung auch beim Gastspiel auf dem 12. Sächsischen Theatertreffen. Gesprächsstoff.
Von Moritz Jähnig
Rückkehr der „Lulu“-Tragödie nach Leipzig
Genau genommen ist das Stück wieder einmal da angekommen, wo es herkam. Die später „Lulu“ getitelte Tragödie wurde 1898 im Krystallpalast Leipzig uraufgeführt. Jedenfalls ihr erster Teil „Erdgeist“, dem später „Die Büchse der Pandora“ als beinahe unerträgliches Finale folgte. Wedekind selbst spielte zur Uraufführung den Dr. Schön, einen reichen Medienmann, der an der Dressur Lulus selbst mit beteiligt ist.
Dr. Schön gibt dem Leben des wohlgestalteten Kindes jedoch keine Stabilität. Er strebt eine für ihn vorteilhafte Heirat an und wird zum ersten Mann, der Lulu auf ihren schicksalhaften Weg des Ausgenutzt-, Gebraucht- und Weitergereicht-Werdens abdrängt. Die vielfachen Umarbeitungen und Erweiterungen dieses Textes und das persönliche Mitwirken des 34-jährigen Benjamin Franklin Wedekind an der Uraufführung – natürlich streng unter Pseudonym – sprechen für Wedekinds eigene existenzielle Betroffenheit: Inwieweit sind wir Männer am Verlauf dieses Lebens schuldig? Die Geschichte ist erschütternd gemeint und erschüttert seit ihrem ersten Erscheinen bis heute.
Eine Inszenierung und ihre Wirkung
Die Szene bleibt im Wesentlichen ein dunkler Raum, ausstaffiert mit Hockern, Konzertflügel und altertümlichen Scheinwerfern. Eine transparente Rückwand wird schwarz und undurchsichtig gestrichen und dann wieder abgewaschen. Man sieht in dieser Inszenierung auf geniale Weise eine Ausstattung, die scheinbar da ist und doch auch wieder nicht. Sie wird nur vor dem inneren Auge durch unsere menschliche Phantasie ergänzt.
So auch bei den körperlichen Beziehungen der Figuren. Kopulieren sie oder nicht? Ist das real oder Wahnsinn? Zwei nackte Männer küssen sich und haben Sex. Der Algorithmus aus Erfahrungen und die Trainingsprogramme, mit denen wir unser Gehirn füttern, zaubern aus dem Nichts Erkenntnisse, die Schein sind und lösen Reaktionen aus, die wir rational bei uns nicht erwartet hätten.
Das Stück verhandelt das Schicksal des Mädchens Lulu, unseren Umgang mit dem Fortpflanzungs- und Sexualtrieb, mit Dominanz, Gewalt und Unterwerfung. Mordlust und Prostitution sind ebenfalls Themen. Es ist der Dresdener Regisseurin Daniela Löffner und den nackten Männern des Staatsschauspiels zu danken, dass sie mit dieser auf den ersten Blick simplen Besetzungsidee zeigen, dass dieses Theater unser Innerstes nach außen kehren kann. Damit hebt sie sich aus dem gros der Blümchen-rühr-mich nicht-an-Debatten ab.
Es ist nicht der uneingeschränkt bewunderungswürdige Schauspieler Simon Werdelis, dem – ganz altmodisch – der Iffland-Ring an den Finger gesteckt und auf gut österreichisch die Hand geküsst werden sollte, der sich da nackt macht. Unsere Gefühle und Reaktionen zeigen, wer wir sind und wie nackt wir da stehen, wo wir stehen. Das ist der produktive Sinn der Besetzung. Mehr packendes Spiel geht nicht.
Die nächste Vorstellung im Staatsschauspiel Dresden am 29. Juni 2024.
Annotation
„Lulu“ von Frank Wedekind. Staatsschauspiel Dresden. Regie: Daniela Löffner.
Bühne: Claudia Kalinski, Kostüme: Daniela Selig, Kompositionen, Matthias Erhard, Licht: Peter Lorenz, Dramaturgie: Kerstin Behren,
Besetzung:
Lulu – Simon Werdelis, Franz Schön – Raiko Küster, Eduard Schwarz – Sven Hönig, Dr. Goll – Holger Hübner, Alwa Schön – Philipp Grimm, Schigolch – Hans-Werner Leupelt, Gräfin Geschwitz – David Kosel, Rodrigo Quast – Michael Rothmann, Paris, Gäste im Hotel – Sven Hönig, Holger Hübner, Raiko Küster, London, Jack the Ripper – Sven Hönig
Premiere 9.9.2023; besuchte Vorstellungen 18.9.2023 Dresden, 22.5.2024 Leipzig; veröffentlicht 24.5.2024
Credits
Text: Moritz Jähnig, freier Theaterkritiker, Herausgeber, Leipzig
Foto: © Sebastian Hoppe