Stefano Giannetti inszenierte Karol Szymanowskis Oper „König Roger“ am Anhaltischen Theater
Das Anhaltische Theater Dessau bleibt Dauerreiseziel für Opernfreunde, weit über die Region hinaus. Die eng getakteten Premierenereignisse der vergangenen und laufenden Spielzeit befeuern diesen Trend. Jetzt legte das Haus mit Karol Szymanowskis 1926 in Warschau uraufgeführten mystischen Hauptwerk nach, der Oper „König Roger“.
Von Moritz Jähnig
Der aufmerksame Leser entdeckt in letzter Zeit wieder öfter Medienmeldungen über Neuinszenierungen der schon so gut wie vergessenen geglaubten polnischen Oper auf deutschen Bühnen. Auch die international stark beachtete Fassung des „Król Roger“ von 2023 am Nationaltheater Kosice – Kunst und Technik berichtete – half mit, die Aktualität des Stoffes in das westeuropäische Bewusstsein zu rücken. Trotzdem blieben in der von uns besuchten ersten Repertoirevorstellung viele Plätze unbesetzt.
Košice: Szymanowskis „König Roger“ und die schwule Emanzipation
Anspruchsvolle musikalische Struktur
Es geht um innere Befreiung, naturgemäßes Leben und Lieben. Die Oper spiegelt das Bemühen ihres Schöpfers, trotz seiner sexuellen Identität in der bürgerlichen Realität Polens der Zwischenkriegszeit menschlich und künstelerisch Anerkennung zu finden. Dazu spinnt sein Librettist Jaroslaw Iwaszkiewicz die Fäden der Handlung gedanklich vor einem archaisierenden, panreligiösen Hintergrund. Seine üppigen geistigen Verzweigungen und Anspielungen finden sich im Rausch einer Richard Strauss verpflichteten Klangwelt wieder. Jeder der drei kurzen Akte weist eine unterschiedliche musikalische Struktur auf. Im ersten Akt, in dem ein fremder Hirte, vom Volk als Apostel einer neuen, naturnahen Religion verehrt, am Hof des streng nach orthodoxen Ritualen lebenden Roger und seiner Gattin Roxane erscheint, präsentiert sich die Komposition eher „konventionell“. Im zweiten Akt, nachdem der Hirte die Königin und weite Teile des Volkes überzeugt hat, ihm zu folgen, bleibt Roger allein mit seinem Vertrauten Edrisi zurück. Jetzt mischen sich orientalische und italienische Motive in die Komposition ein. Schließlich kommt es im dritten Akt zur Vereinigung des Königs mit dem Hirten. Roger erfährt innere Erlösung und die Musik erstrahlt in einem klaren, unverfälschten C-Dur.
Das Bühnenbild – ein weißer, transparenter Rundhorizont, vor dem Guido Petzold in den ersten beiden Akten eine felsenartige Skulptur platziert hat. Im dritten Akt schmücken Scheinwerfer als Sternenfirmament den Bühnenhimmel, bevor in der beeindruckenden Schlussapotheose eine monumentale Sonnenscheibe alles überstrahlt.
Auch Judith Fischer stellt sich mit ihren Kostümen voll in den Dienst des Regiekonzepts. Farbigkeit und Schnitt erzählen uns über die Entwicklung der Figuren. Die Gegensätzlichkeit zwischen dem staatsmännischen Roger, gekleidet in einem streng geschlossenen, bodenlangen Gewand, und dem naturverbundenen Hirten, der einen offenen, goldschillernden Mantel auf nacktem Oberkörper trägt, symbolisiert die Positionen der beiden Kontrahenten. Die Assoziationen reichen dabei von einem orthodoxen Priester bis hin zu einem Showmaster und windigen Entertainer.
Der Ballettchef Stefano Gianetti aus Dessau verleiht der vielschichtigen Botschaft der Dichtung aus den zwanziger Jahren eine klare, heute verständliche Struktur. Seine Bilder und Gruppen tragen dazu bei, die Situationen zu erkennen. Alles verschmilzt in dem gestenreichen Spiel des Chores und Kinderchores (unter der Vorbereitung von Sebastian Kennterknecht und Dorislava Kuntscheva) sowie der vier in das Geschehen integrierten Tanzpaare. Die Akteure agieren im höchsten Erregungszustand mit einer großen, überbetonten Gestik. Die Darstellung ist sowohl tänzerisch als auch zeichenhaft.
Jedes Detail verdient Aufmerksamkeit und muss eingeordnet werden. Das ist anstrengend. Je vorbereiteter der Zuschauer die Vorstellung besucht, desto größer sein Gewinn.
Eine große Hilfe dafür sind die Originalbeiträge im Programmheft, Redaktion Yuri Collossale. Verdiensvollerweise wird alles scheinbar Komplizierte verständlich zusammengefaßt. Im zweiten Heftteil folgen akademische Artikel.
Es ist keineswegs übertrieben, die musikalische Leiterin Elisa Gogou und die Anhaltinische Philharmonie als Hauptdarsteller dieser Inszenierung zu bezeichnen. Gogou lenkt mit beeindruckender Sicherheit durch die ständig wechselnde Dynamik der mal flirrenden, mal sakral schreitenden Komposition. Sie zeigt eine vorausschauende Führung sowohl für das Orchester als auch für die Sänger, wodurch sie allen Halt und Harmonie gibt. In der Schlussapotheose füllt sie den gesamten Raum des Dessauer Theaters mit Klang und Nähe – eine Wirkung, die man so nur an diesem einzigartigen Spielort erleben kann.
Einprägsame, geschlossene Ensembleleistung
Die sängerischen Auftritte von Caleb Yoo als Erzbischof und Jagna Rotkiewicz als Diakonissin sind zwar kurz, jedoch kraftvoll. Der Komponist zeigte an diesen Figuren kein gesteigertes Interesse. Christian Sturm, stimmlich in tenoraler Höchstform, verkörpert als arabischer Gelehrter Edrisi in jeder Lebenslage den loyalen Freund an der Seite des Königs.
Anja Vegry als Roxane beeindruckt mit ihrer blütenreinen Gesangsstimme und hingebungsvollem Spiel.
Das Duo Szymanowskis/Iwaszkiewicz hat sich dramaturgisch voll und ganz auf die Auseinandersetzung zwischen König und Hirten konzentriert. In Dessau treffen mit Kay Stiefermann und Alexander Geller zwei erstklassige, starke Protagonisten zusammen. Stiefermann fesselt durch hohe Dramatik im Vortrag bei sparsamer Gestik. Sein Glücksgefühl nach der Vereinigung mit dem Hirten wirkt sehr abgeklärt und ist frei von Pathos. Alexander Geller als Hirte kostet seinen Triumph in vollen Zügen aus. Bei ihm besteht nie ein Zweifel, dass er in diesem Kampf erfolgreich hervorgehen wird. Sein tenoraler Klang unterstreicht diese sieghafte Figurenhaltung.
„Krol Roger“ erzählt keine Handlung, sondern malt musikalisch die Vision einer besseren und auf jeden Fall einer völlig anderen Welt. Diese Welt ist nicht zukünftig, sie ist keine Prophezeiung. Sie ist bereits vorhanden. In dieser Welt agieren die Menschen nicht wie Roboter jeder für sich, sondern haben Kontakt zueinander und nehmen sich wahr. Solche Bilder, gemalt mit den suggestiven Klangfarben von Karol Szymanowski, tun in unserer gesellschaftlich zerrissenen Realität der Seele wohl.
Annotation
„König Roger“ (Król Roger). Oper in drei Akten, Musik von Karol Szymanowski, Text von Karol Szymanowski und Jaroslaw Iwaszkiewicz (in polnischer Sprache mit deutschen Übertiteln). Anhaltisches Theater Dessau.
Musikalische Leitung Elisa Gogou,Inszenierung und Choreografie Stefano Giannetti, Bühne und Licht Guido Petzold, Kostüme Judith Fischer, Leitung Opernchor Sebastian Kennerknecht, Leitung Kinderchor Dorislava Kuntscheva, Choreografische Assistenz Roman Katkov, Dramaturgie Yuri Colossale
Besetzung:
Roger II., König von Sizilien Kay Stiefermann, Roxane, seine Frau Ania Vegry, Edrisi, ein arabischer Gelehrter Christian Sturm, der Hirte Alexander Geller, der Erzbischof Caleb Yoo, Diakonissin Jagna Rotkiewicz. Opernchor des Anhaltischen Theaters Dessau, Ballett des Anhaltischen Theaters Dessau, Anhaltische Philharmonie Dessau, Kinderchor des Anhaltischen Theaters
Premiere 2.3.2024, besuchte Vorstellung 9.3.2024, veröffentlicht 10.3.2024, eine Aktualisierung 10.3.2024, weitere Aktualisierung 11.3.2024
Credits
Text: Moritz Jähnig, freier Theaterkritiker und Herausgeber, Leipzig
Fotos (5): © Thomas Ruttke
Szenenbilder