Home | Theater/Musik | Dessau: Kampf gegen Klischees
Dessau: Kampf gegen Klischees

Dessau: Kampf gegen Klischees

Ästhetisch ambitioniert, musikalisch außerordentlich – „La Boheme“ am Anhaltischen Theater

An der zunehmenden Dichte von „La Boheme“-Aufführungen merkt man, wann Weihnachten naht. Das ergreifende Stück macht glücklich. Eine größere Liebesgeschichte als die zwischen der Näherin Mimì und dem Dichter Rodolfo gibt es wohl kaum auf der Opernbühne. Sie beginnt mit der einfachen Frage nach Feuer für eine erloschene Kerze, die in der winterlichen Kälte Wärme geben soll. Aber die Liebe kann den Tod nicht abwenden. Kaum eine Oper wird häufiger gespielt. Ein Selbstläufer, sollte man meinen. Uns fielen in Dessau trotzdem viele freie Plätze auf.

Von Moritz Jähnig

Gut vorbereitet und spielfreudig, der Jugendchor des Anhalitischen Theaters (vorn), Solisten und Chor im 2. Bild. Weihnachtsliche Stimmung durch Schneestern-Projektionen (Video Luca Fois)

Eine Liebesgeschichte voller Intensität und Melancholie

Giacomo Puccini komponierte mit „La Bohème“ eine mitreißende Liebesgeschichte im Paris des 19. Jahrhunderts. Mit beeindruckender Feinheit und Intensität orchestriert er die tiefe Liebe zwischen Rodolfo und Mimì und schafft Klänge, die von klirrender Kälte bis hin zu flammender Hingabe reichen. Eindringliche Duette und Arien erzählen von Armut, Kunst, Verbundenheit und Verlust – ein Preislied auf die Unbedingtheit der Liebe. Die Freundschaft wird als summum bonum gefeiert. Doch am Ende siegt der Tod.

Kitsch und Kalkül als emotionale Flucht

Vor dieser schwer erträglichen Wahrheit flüchtete sich Puccini selbst in eine Art kalkulierter Süße. Wenn Musetta religiös ergriffen mit einem warmen Muff zur sterbenden Mimì eilt, so ist das Kitsch – und lässt dennoch niemanden kalt. „Kitsch as Kitsch can“, könnte man sagen.

Jede Aufführung von „La Bohème“ versucht, mit dieser Wirkungskraft umzugehen. Häufig werden pittoreske Bilder von der „schönen Armut“ auf der Bühne gezeigt – der Spitzweg-Schirm, das lange Ofenrohr, der Weihnachtsbaum. All das gehört normalerweise zum Standard.

Ein futuristischer Bühnenraum

Am Anhaltischen Theater sieht man von diesen typischen Requisiten jedoch nichts. Das Gast-Inszenierungsteam um Christian von Treskow (Regie), Dorien Thomsen (Bühnenbild) und Bernadette Weber (Kostüme) arbeitet erstmals in Dessau, kennt sich jedoch bereits von früheren Projekten. Seine Werksicht, die zwar nun wieder andere Klischees bedient, hat dennoch großen Anklang gefunden.

So patrouilliert im dritten Akt eine mit Kompaktmaschinenpistolen bewaffnete Polizei – ein Anblick, der auf der Bühne der Gegenwart kaum noch schockiert.

Mimi, eine Näherin: Ania Vegry / Rodolfo, ein Poet: Costa Latsos

Christian von Treskow scheut den Kitsch wie der Besagte das Weihwasser und stellt die fragwürdige Doppelnatur all unserer Weihnachtsbilder heraus.

Von Paris im 19. Jahrhundert, dem Quartier Latin und Künstleridyllen ist nichts zu sehen. Notre Dame ist bis auf verkohlte Reste niedergebrannt. Schnee gibt es nur als neonbunte Projektionen (Videos von Luca Fois). Auch die Wache, die auf dem Weihnachtsmarkt aufzieht, scheint aus einem Kölner Karnevalsumzug entlehnt zu sein. So wird das Erwartete zwar bedient, aber immer wieder angekippt.

Trash Fashion in einer frostigen Welt

Die Figuren tragen trashige Gegenwartsklamotten, die eine Persiflagen trashiger Gegenwartsklamotten sind. Wir bewegen uns in einer artifiziellen Gegenwart. Es macht schon den Unterschied, ob man bei KIK ein Hoodie holt oder ein Kostüm kreiert. Das Erwartete wird bedient, aber angekippt. Wir bekommen Figuren gezeigt, die wir aus dem Leben zu kennen glauben.

Alle Figuren bewegen sich in einer frostigen, kaputten Welt, die voller Überraschungen ist. Die vier jungen Künstler wohnen in einem sechseckigen vollverglasten Pavillon, der auf hohen Stelzen steht und wohl aus den Planungsbüros von SpaceXMusk für die bemannte Mars-Missionen 2028 stammt. Von Mansarde hat das gar nichts. Auch in diesem futuristischen Kasten siegt der Tod.

Die todkranke Mimì wird irgendwie die Wendeltreppe hinauf geschafft haben. Sie stirbt in dieser Glasdose, ohne übermäßiges Schluchzen und Pathos. Puccinis Musik spricht ausdrucksstark für sich. Ania Vegry begeistert als Mimì mit ihrem klangschönen, vollklingenden Sopran und wird zum gefeierten Mittelpunkt dieser stimmlich herausragenden Aufführung. Die Sopranistin trägt mit ihrer Darbietung maßgeblich dazu bei, dass ein Besuch in Dessau nie zur Enttäuschung wird.

Gesangliche Glanzleistungen und präzises Dirigat

Kurz vor der Premiere musste Alex Kim kurzfristig für den erkrankten Costa Latsos als Rodolfo einspringen. Der Sänger, der an vielen großen Häusern gastiert, fand sich rasch in die Inszenierung ein und beeindruckte mit kraftvollen Spitzentönen und tenoraler Strahlkraft. Kay Stiefermann verlieh dem Maler Marcello mit seiner kraftvollen Stimme Tiefe, Baris Yavuz zeichnete ein starkes Profil des Musikers Schaunard, und Michael Tews überzeugte als Philosoph Colline mit seinem tiefen Bass.

Bogna Bernagiewicz als Musetta weckt sofort Sympathie und verleiht ihrer Stimme auch in höchsten Lagen einen herzenswarmen Klang. Bei ihrer großen Arie „Quando m’en vò“ (2.Akt) stellt die Regie ihr ein Standmikrofon zur Verfügung, wodurch Musetta von der Edelprostituierten zur Chansonette und Künstlerin aufgewertet wird.

Bogna Bernagiewicz als Musetta

Hervorzuheben ist die präzise Vorbereitung des Opern- und Jugendchors unter der Leitung von Sebastian Kennerknecht und Dorislava Kuntscheva, die für die bemerkenswerte Bühnensicherheit verantwortlich zeichneten.

Das souveräne Dirigat von Generalmusikdirektor Markus L. Frank begleitete die Sänger sicher durch den Abend. Die Musiker der Anhaltischen Staatskapelle brachte Frank leidenschaftlich zum Klingen und ließ Puccinis Meisterwerk – mal dramatisch-schmerzhaft, mal zart, mal tieftraurig – rhythmisch präzise und ausdrucksstark erklingen.

Das Zusammenspiel von Orchester und singendem Ensemble meisterte den Spagat zwischen leisen Nuancen und aufblühenden Melodien auf beeindruckende Weise.

Annotation

„La Bohème“. Oper in 4 Bildern von Giacomo Puccini, Libretto von Luigi Illica und Giuseppe Giacosa, nach dem Roman „Scènes de la vie de bohème“ von Henri Murger. Anhaltisches Theater Dessau. Musikalische Leitung: Markus L. Frank, Inszenierung: Christian von Treskow, Bühne: Dorien Thomsen, Kostüme: Bernadette Weber, Video: Luca Fois, Leitung Opernchor: Sebastian Kennerknecht, Leitung Jugendchor: Dorislava Kuntscheva, Dramaturgie: Yuri Colossale

Besetzung

Rodolfo, ein Poet: Costa Latsos , Alex Kim 01.11.2024, Marcello, ein Maler: Kay Stiefermann, Schaunard, ein Musiker: Baris Yavuz, Colline, ein Philosoph: Michael Tews, Mimi, eine Näherin: Ania Vegry, Musetta, eine Kokotte: Bogna Bernagiewicz, Monsieur Benoit, Hausherr: Alexander Argirov, Alcindoro, Begleiter Musettas. ein Staatsrat: Kostadin Argirov, Parpignol, Spielzeugverkäufer: David Ameln; Opernchor des Anhaltischen Theaters Dessau, Jugendchor des Anhaltischen Theaters Dessau, Statisterie des Anhaltischen Theaters, Anhaltische Philharmonie Dessau

Premiere und besuchte Vorstellung 1.11.2024; veröffentlicht 3.11.2024

Credits

Text: Moritz Jähnig, freier Theaterkritiker, Leipzig

Foto: © Claudia Heysel

Scroll To Top