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Der Faust-Keil

Der Faust-Keil

Leipziger Schauspiel mit eigener Sicht auf „Faust I und II“.

„Bescheidne Wahrheit sprech‘ ich dir. / Wenn sich der Mensch die kleine Narrenwelt, / Gewöhnlich für ein Ganzes hält.“ Goethes Aufzeichnungen belegen, zeitlebens hat sich der Großliterat mit dem Stoff um den Wissenschaftler, der die Weltzusammenhänge erkennen will, beschäftigt. Mit 21 verfasste er den Urfaust, der nur durch Zufall auf uns kam. Bis zu seinem Tode schrieb er an Der Tragödie zweitem Teil.

von Henner Kotte

Generationen von Schülern, Gelehrten und gemeinem Volk rezitierten, interpretierten und deuteten die ca. 75.000 Wörter in ihrer Zusammenstellung. Als der Autor auf sein Werkprojekt zurückblickte, sprach er von einer großen Schwammfamilie. Und wahrlich gibt sie uns auch heute genügend Denkanlässe, so dass Schauspielhäuser aller Welt den Stoff immer wieder auf ihre Bühnen stemmen. „Allein der Vortrag macht des Redners Glück.“

Leipzig fühlt sich dem Gigantenwerke eng verbunden, da doch die Szene in Auerbachs Keller sehr lustige Gesellen in der Stadt beim Trunke zeigt, die Werbeworte wirksam sprechen: „Mein Leipzig lob‘ ich mir, es ist ein Klein-Paris und bildet seine Leute“, schreibt sich die Stadt auf die Tourismusfahnen, zementiert den Spruch sogar auf Häuserdächern und vergisst ganz und gar, dass den Satz ein Sturzbesoffner sagt, den man wohl besser nicht ganz für bare Münze nehmen sollte. Wohlan, die zitierten Sätze haben hinlänglich bewiesen, dass „nicht wenige Textstellen zum reinen Zitat, losgelöst von Inhalt und Kontext, geronnen“ sind. Dies ist Regisseur Enrico Lübbe mit seinem Team Anlass, den Faust mit seiner Zitate Verselbstständigung neu zu sehen. Das birgt Risiken – keine Frage.

Der Aufstand der Deutschlehrer und ihrer Schüler war bei solch Herangehen gewiss: Viele der allzuschönen Szenen vom Schüler und des Pudels Kern wurden gestrichen. Keine Erleichterung der pädagogischen Arbeit und anschließender Diskussion, denn die Inszenierung ersetzt eben nicht die Einsparung des leidigen Lesens, ist keine Bebilderung der großen Worte. Wahrlich blöd. Schlimmer noch: Die allbekannten Sätze werden bis zur Unkenntlichkeit verhacktstückt. Der Osterspaziergang wird Chorgesang mit ganz falscher (und vielleicht damit grad richtiger) Betonung. Mein Gott: Wie soll ein Lehrer das bewerten! In der Gretchentragödie keine Kirche mit hohen Fenstern, keiner, der von oben spricht: „Ist gerettet!“ Unverschämtheit! Und gar welche Dreistigkeit: Mephisto kommt am Abend gar nicht vor.

Der Regisseur nimmt nur zwei Szenen zum Ausgang seiner Interpretation des Stücks: Am Brunnen aus des Werkes Erstem Teil, zum anderen Mitternacht aus dessen Zweitem. Da haben wir den jungen Goethe und den alten, eine wirklichkeitsgetreues Stück Leben und eine Allegorie. „Eine Szene zwischen den Mägden und Frauen wie Magarethe, die klar und scharf von gesellschaftlicher Enge und Normkontrolle erzählt“, in der zweiten „nehmen tiefnachts Sorge, Not, Mangel und Schuld von Faust Besitz: In sprachlicher Brillanz werden die unausgesprochenen Ängste und Sehnsüchte, Irrtümer und Fehler eines Lebens bilanziert“. Dualität in Person und Inszenierung: „Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust.“ Der lehrmeinungsgetreue Lehrer kann seinen Schülern den Gang in dieses Theater nicht empfehlen. Ich hoffe, die Schüler haben Charakter genug, es dennoch zu tun! Das spiegelt das Theater, ganz wie gewünscht, die Realität und hält uns den Spiegel vor. Klasse Klassik!

Der Faust in Gänze bräuchte Tage seiner werkgetreuen Inszenierung. Das verhindert die schnelllebige Gegenwart. So fallen die Zuschauer gleich mit Beginn in die Sorgen eines alten Mannes um seine Lebensbilanz, ganz wie sich viele Alte heut genau diese Fragen stellen (müssen). Dann wird von der Jugend des Alten erzählt, von seinen Idealen, der Liebe und vom empfundenen Weltenglück. Nur geschieht dies nicht auf die erwartbare klassische Weise. Die Bühne von Etienne Pluss nur kreisende Scheiben, die sich drehen, heben und senken. Benannte Mimen aus de unübersehbaren Personage des Goethschen Werks nur acht, die allesamt überzeugen: Wenzel Banneyer (Faust), Thomas Braungart, Alina-Katharin Heipe, Denis Petković, Bettina Schmidt (Sorge/Mangel/Not/Schuld) Julia Preuß (Gretchen), Tilo Krügel (Wagner) und Andreas Dyszewski (Valentin). Dazu ein vielstimmiger Chor, dessen Wortchoreografie (Einstudierung: Franziska Kuba und Ustina Dubitsky) süchtig macht. Doch stellt der Abend mehr als Teil eins auf die Bühne.

Es folgt das Aparte Kistchen, worin sich Goethe in dreifachem Alter mit sich selbst und seinem Werke beschäftigt. Ihm assistieren sein Groupie Luise von Göchhausen (jene, die den Urfaust rettete) und Johann Peter Eckermann (jener, dem Goethe sein Leben erzählte). Witzig, dass die eben darstellenden Mimen zu Handlangern von Puppen mutieren – auch das der Deutung mehr als wert. Am Schluss ist nicht nur Goethe drei Mal besoffen, auch dem Publikum werden geistige Getränke gereicht. Eine heitere Sinnsuche.

Um dann auf Reisen zu gehen. Das Publikum kann wählen zwischen außerhalb des Theaterhauses liegenden Orten zu Themen, zu denen Faust den Anlass gibt: In der Alten Handelsbörde verhandelt man Reichtum und die Eigenlebigkeit von Wertpapieren und Papiergeld. Im Hörsaal der Anatomie diskutiert man Schöpfungsträume. Es wird nicht nur über den Homunkulus gesprochen. Am Völkerschlachtdenkmal erzählen Die Umsiedler, die der Kohle weichen mussten. Baute Faust am Kanal, der Fortschritt bringen sollte, verlieren nicht nur Philemon und Baucis ihre Heimat. Themen der Zeit.

Zu vormitternächtlicher Stunde gibt es noch einen Parforceritt durch den Zweiten Teil, dessen philosophische Tiefe nach fünf Stunden Theatermarathon kaum noch aufnehmbar. Vielleicht deshalb wird auch auf Leinwand am Goeth‘schen Original stetig gestrichen.

Das war’s, und es war gut! Wobei natürlich nicht nur von Lehrern die Frage zu stellen ist: Ist das noch Faust? Die Definition eines Plagiats ist „Aneignung von Gedanken, Ideen o. Ä. eines anderen auf künstlerischem oder wissenschaftlichem Gebiet und ihre Veröffentlichung“. Wenn aber nun vom eigentlichen Werk kaum noch was übrigbleibt, was ist es dann? Agiert man nur publikumswirksam mit einem Titel? Andere nannten ihre Überarbeitungen Hamlet-Maschine oder Medea-Stimmen. Ich spräche vom Faust-Keil.

Annotation:

“Faust“ von Johann Wolfgang Goethe, Schauspiel Leipzig, Regie: Enrico Lübbe, Bühne: Etienne Pluss, Kostüme: Sabine Blickenstorfer, Video: fettFilm, Komposition Musik & Chor: Peer Baierlein, Chorleitung: Franziska Kuba, Ustina Dubitsky, Choreographie: Stefan Haufe, Dramaturgie: Torsten Buß, Produktionsleitung Themen-Touren: Maximilian Grafe, Licht: Ralf Riechert

Besetzung: Wenzel Banneyer als Faust, Thomas Braungardt, Alina-Katharin Heipe, Denis Petković, Bettina Schmidt als Sorge / Mangel / Not / Schuld, Julia Preuß als Margarethe, Katharina Schmidt als Margarethe, Tilo Krügel als Wagner, Andreas Dyszewski als Valentin, Tilo Krügel als Johann Peter Eckermann, Bettina Schmidt, Denis Petković als Johann Wolfgang Goethe 1, Julia Preuß, Thomas Braungardt als Johann Wolfgang Goethe 2, Alina-Katharin Heipe, Andreas Dyszewski als Johann Wolfgang Goethe 3, Wenzel Banneyer als Luise von Göchhausen, Nicole Widera, Nina Wolf, Tobias Amoriello, Ron Helbig, Julian Kluge, Philipp Staschull, Friedrich Steinlein, Paul Trempnau als Schüler, Lieschen, Marthe, Chor

 

Was noch:

Nächste Termine: Sa, 12.10. 18.00 Uhr (Wiederaufnahme, mit Audiodeskription) Faust I + II; So, 13.10. 18.00 Uhr, Faust I + II; Fr, 01.11. 18.00 Uhr Faust I + II

Premiere 29.09.2018; veröffentlicht 05.06.2019

www.schauspiel-leipzig.de

Credits:

alle Fotos: Rolf Arnold/Schauspiel Leipzig

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