Wagner-Held auf Identitätssuche in einem Tanzstück von Gregor Zöllig.
Für ein außergewöhnliches Projekt erhielt der Leipziger Komponist, Pianist und Leiter der Gewandhaus-Reihe Musica Nova Steffen Schleiermacher (geb. 1960) einen Kompositionsauftrag des Staatstheaters Braunschweig. Dort gelangen nur die Eckstücke „Das Rheingold“ (seit Oktober 2022) und „Götterdämmerung“ (Premiere am 3. Juni 2023) aus Richard Wagners vierteiligem Bühnenfestspiel „Der Ring des Nibelungen“ in der Inszenierung von Operndirektorin Isabel Ostermann zur Aufführung. Unter dem Projekttitel „Ausweitung des Ringgebiets“ verzichtet man auf Wagners „Die Walküre“ und „Siegfried“. Stattdessen gibt es ab 16. März 2023 die Schauspiel-Uraufführung „Die Walküren“ von Caren Jeß. Das Substitut für „Siegfried“, den zweiten Tag des Bühnenfestspiels, bildet ein Beitrag des Tanztheaters unter Gregor Zöllig: „Siegfried – eine Bewegung“.
Von Roland Dippel
In den letzten Jahren gab es immer wieder Produktionen von Richard Wagners Bühnenfestspiel „Der Ring des Nibelungen“, bei dem der Vierteiler mit 15 Stunden Musikdauer nicht von einer Regie-Handschrift, sondern von vier geprägt wurde – zum Beispiel in Stuttgart und Essen. Nur noch ein Schritt weiter und man verzichtet auf zwei Teile der Originalpartitur wie in dieser Spielzeit das Staatstheater Braunschweig. Diese Lücken bereichert man um zeitgenössische Artefakte, die den Nibelungenmythos und Richard Wagner Vision vom Untergang einer Welt, ihrer politischen Systeme und natürlichen Grundlagen weiterdenken. Die Dramaturgie des Staatstheaters Braunschweig nennt das unter dem Projekttitel „Ausweitung des Ringgebiets“ die „Gebrochenheit und Heterogenität als Modell einer Gesellschaft in Transformation“. Operndirektorin Isabel Ostermann setzte mit drei Schauspielern Ausschnitte aus Thomas Köcks neuen Bühnentext „wagner – der ring des nibelungen (a piece like fresh chopped eschenwood)“ (2021) in ihre „Rheingold“-Inszenierung und hinterfragte die göttlichen Gesellschaften so auf deren bestehende oder erloschene Relevanz. Das Substitut für „Siegfried“, den zweiten Tag des Bühnenfestspiels, bildet jetzt ein Beitrag des Tanztheaters mit Auftragskomposition: „Siegfried – eine Bewegung“.
Bekanntermaßen hält sich Steffen Schleiermacher in deutlichem Abstand zu den meisten Schulen der Neuen Musik und „-ismen“ der Gegenwartsmusik, aber auch vom Kosmos Richard Wagners. Nach eigenen Angaben würde Schleiermacher dessen Gesamtaufführung gar nicht durchhalten. Er unternahm einige Anleihen aus Wagners originalem „Siegfried“-Partiturmaterial, um Brücken zum Anlass-Werk zu schlagen. Schleiermacher selbst schlägt vor, diese klangliche Anleihen zu seiner genau 80-minütigen Partitur bei Bartók, Strawinsky und Varèse zu finden – eine erfolgreiche Suche selbstverständlich vorausgesetzt.
Dass Schleiermacher einen durchaus praktikablen und gestischen Bezug zum Komponieren hat, macht ihn zum idealen Bühnentanz-Komponisten Seine synkopischen Rhythmus-Konstrukte der in enger Koordination mit dem Braunschweiger Sparten-Direktor Gregor Zöllig entstandenen Partitur sind denn auch toller, griffiger Qualitätstreibstoff für den Choreographie-Motor. Aus diesem blitzen nicht nur Wagners klangliche Schwert- und Mime-, sondern sogar die lastenden „Götterdämmerung“-Signaturen heraus. Schleiermachers Rhythmus treibt mehr an als bei Wagner und beflügelt die wesentlich an Entstehung der Tanzszenen beteiligte Kompanie.
Es reihen sich viele schnelle Gruppenbewegungen. Bei Wagner gibt es in „Siegfried“ bekanntermaßen keine Massenszenen, in Zölligs Neudeutung zahlreiche. Da stößt der „hehrste Held der Welt“ und Wotans Wunsch-Weltretter auf eine junge Gruppe, welche die Vergehen und Versäumnisse ihrer Vorfahren kitten will. Dass der Drache eine symbolische Akkumulation eigener Defizite und Ängste, der Sieg im Drachenkampf eine glückliche Selbstbewährung und Selbstfindung sein kann, wusste bereits die Psychologie des frühen 20. Jahrhunderts. An diesem Punkt der von Zöllig anders gepolten „Siegfried“-Handlung beginnen die zwei Drittel des Abends umfassenden Gruppenszenen: Dynamisch, sportlich und mit spannenden Bewegungsfolgen vollzieht sich Siegfrieds Kampf und Ehrgeiz zur Aufnahme in die Gruppe, welche den Untergang stoppen will. Auch in Braunschweig wird der Klimawandel zum ganz weit oben rangierenden Konzeptschwerpunkt der gerade begonnenen Spielzeit. Also mündet die Siegfried-Bewegung nicht in ein Tanzfinale, sondern in einen Unterwasserfilm. Mit ganz unterschiedlichen Stimmungen gleiten die Menschen zwischen den CO2-Blasen dahin, bis Siegfried auch dort auf Brünnhilde trifft. Göttervater Wotan ist hier eine Frau (Nao Tokuhashi), wodurch Siegfrieds Sehnsucht nach der unbekannten Mutter auch eine tänzerische Dimension hätte erhalten können. Das war aber nicht angedacht.
Betreffend physische Materialien strahlt die Produktion vor affirmativem Umweltbewusstsein. Hank Irwin Kittel zeigt Natur nur noch auf Bahnen von Fototapeten, welche auf Betonmauern geklebt oder von diesen abgerissen werden. Julia Burkardts Kostüme, angelehnt an Trainingskleidung, geben den Tänzern Individualität. Trotz der vielen Gruppentänze wirken die wenigen Duo- und Soloszenen weitaus eindrucksvoller. Hier kommt Zöllig zu Bewegungsfolgen, welche mit Mitteln des Tanzes Wagners subtile Psychostrukturen in ziel- und treffsichere Bewegungen transformieren. Wie bei Aufführungen von „Siegfried“ keine Seltenheit, gerät die spannungsreiche Beziehung Siegfrieds zu seinem Ziehvater Mime noch spannender als die Begegnung Siegfrieds mit der ihm durch Wotan vorbestimmten Brünnhilde. Wenn Brünnhilde einmal sogar Siegfried hebt und angewinkelte Knie immer wieder die körperliche Harmonie der beiden verhindern, zeugt das vom schnellen Scheitern der Beziehung.
Bei Mime und Siegfried gelangt Zöllig durch die physische Verausgabung von Joshua Haines zu einem schon bizarren Gefühlsgeflecht mit sadomasochistischen Bedingtheiten. Mime bewundert und instrumentalisiert Siegfried. Mátyás Ruzsom klammert und entklammert sich als gut gebauter Kerl und emotionaler Lebenslehrling in dieser ersten großen Szene mit einer Intensität, die er später in der Gruppe und mit Brünnhilde nicht mehr finden wird. Das liegt auch an dem massiven Schrittmaterial, aufgrund dessen Siegfried viel zu schnell in der Gruppe aufgeht. Das Kämpfen und die Ängste vor der neuen Gemeinschaft ereignen sich ohne allzu große Spannungs- und Erregungszustände, die Mátyás Ruzsom zur Auseinandersetzung mit Mime noch in beklemmende Regungen überführte.
Das Publikum war begeistert von der tänzerischen Verve und einer prägnanten Partitur, die Generalmusikdirektor Srba Dinić und das Staatsorchester Braunschweig mit Lust an Farben und Klangreichtum aus der Taufe hoben. Bei der Premiere wurden das Werk, das Orchester und das Tanzensemble vom Publikum lautstark gefeiert.
Annotation
“Siegfried – eine Bewegung“. Auftragswerk des Staatstheaters Braunschweig. Uraufführung. Musikalische Leitung: Srba Dinić, Inszenierung und Choreographie: Gregor Zöllig, Bühne: Hank Irwin Kittel, Kostüme: Julia Burkhardt, Musik: Steffen Schleiermacher, Video: Konrad Kästner, Dramaturgie: Ira Goldbecher. Mit: Michael D‘ Ambrosio, Filipa Amorim, Alice Baccile, Fenia Chatzakou, Brendon Feeney, Yuri Fortini, Giovanni Fumarola, Joshua Haines, María Gabriela Luque, Dariusz Nowak, Rei Okunishi, Mátyás Ruzsom, Francesca Castellari, Lotta Sandborgh, Nao Tokuhashi, Beatrice Ieni, Mikaela Kos
Besuchte Vorstellung Premiere 29.10.2022; veröffentlicht 15.11.2022; weitere Vorstellungen 16.12./ 28.12./ 30.12.2022; 22.01./ 09.06./ 16.06.2023
Credits
Text: Roland Dippel, freier Theaterkritiker, München/Leipzig
Fotos (4): © Ursula Kaufmann
Szenenbilder