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Brandenburg: „Elektra“ – ein Exzess

Brandenburg: „Elektra“ – ein Exzess

Emotionen und Klänge in der Inszenierung von Intendant Dr. Alexander Busche

Spontane Entschlüsse sind nicht immer, aber meist die besten. Sie verschaffen oft unerwartet genussvolle Erlebnisse. So beim Besuch einer sonntäglichen Nachmittagsvorstellung in der Interimsspielstätte des Brandenburger Theater. Richard Strauss‘ bahnbrechende Oper „Elektra“ wurde in einer klanglich rauschhaften Aufführung präsentiert. Die kraftvolle Inszenierung und die beeindruckenden musikalischen Darbietungen machten den Besuch zu einem unvergesslichen Erlebnis. Wer diese außergewöhnliche Interpretation selbst erleben möchte, hat am 1. Juni 2024 die letzte Chance dazu.


Von Roland H. Dippel

Ein Ruf aus der Vergangenheit
Eine Anekdote will wissen, dass Richard Strauss der Dresdner Hofkapelle bei einer Schlussprobe vor der Uraufführung in der Semperoper 1909 zurief: „Lauter, lauter – man kann sie noch hören!“ Mit „sie“ meinte er seine von Ausschweifungen und Reue über den Mord am Gatten zerfressene Königin Klytämnestra von Mykene und deren Star-Interpretin Ernestine Schumann-Heinck.


Moderne Inszenierung mit klassischem Echo
Bis heute betrachtet man demzufolge Lautstärke-Rekorde in „Elektra“ als erwünscht – von der Met bis zur Multifunktionsbühne im Brandenburger Theater, wo verdächtig an den Seiten stehende Boxentürme zu finden sind. Die Brandenburger Symphoniker positionierte man hinter Hängern mit einem Netz von Klebestreifen für bizarre Licht- und Schattenspiele (Julian Bühle, Uwe Stange). Das Kreischen, Schnarren, Ächzen und den orgiastischen Jubel – von Strauss für über 110 Instrumente gedacht – erklang hier mit etwa halber Personenstärke.


Akustische Intensität und orchestrale Ausdruckskraft
Und das war kein Handicap. Die Orchestereruptionen zum nur scheinbar erlösenden Mord des Rächers Orest an seiner Mutter Klytämnestra und deren in Goldstoff attraktiv verpacktem Liebhaber Aegisth (kräftiger Wohlklang: Sotiris Charalampous) fluteten mit angemessener Expression und Fülle in den Saal. Die Akustik des Brandenburger Theaters ist ungleichmäßig, was der wilden „Elektra“-Partitur und ihren atonalen Effektraketen zugutekommt und Strauss’ kreative Gezacktheiten steigert.
Ein ungleiches akustisches Terrain
Das gilt auch für die Stimmen. Die schwarz gekleideten Mägde (Denis Seyhan, Oleksandra Diachenko, Anna Werle, Nataliia Ulasevych, Natallia Baldus) jagen sich Taschenlampenstrahlen ins Gesicht und expressive Töne ins Auditorium. Alexander Busche hat ziemlich genau am Text inszeniert, am genauesten bei Klytämnestras siegesgewissen Blick nach dem von Tochter Elektra provozierten Psychokollaps in der etwas entgleisenden Aussprache.


Stimmen der Verzweiflung und des Triumphes
Gráinne Gillis singt die „Verwüstete“ (O-Ton von Hofmannsthal) mit fast vormodernem Mut für das Morbide, einer extravaganten Ästhetik des Hässlichen und steineerweichenden Leidenstönen. Hannes Ruhlands Kostüme sind einfach und deutlich. Die Urne mit der Asche des gemeuchelten Papas Agamemnon entzündet sich bei Elektras Verlöschen wie das Olympische Feuer, beleuchtet zum auch vokal flammenden Inferno die verbrannte Erde. Frederik Baldus erscheint davor wie ein vatikanischer Kapuzen-Dämon und singt den Täter Orest wie den Erlöser in einem romantischen Oratorium.
Ein Schauspiel der Extreme
In den meisten Produktionen heute hausen Elektra und ihr paarungs-, aber wenig rachewilliges Schwesterherz Chrysothemis nicht mehr im Dreck und Müll des Palasthinterhofs. Die gut durchtrainierte Elektra gebärdet sich im Mantel des vermissten und oft beschworenen Vaters Agamemnon wie eine Torera von Mykene – bereits beim ersten Monolog und nach dem Kopfkuscheln in Orests Schoß zu ihrem einzigen lyrischen Solo, erst recht am Schluss. György Mészáros hatte sich offenbar mit den Hauptpartien nicht über eine Konditionskoordination neben den großspurig wie souverän auftrumpfenden Brandenburger Symphonikern verständigt. Barbara Krieger, dem Berliner Publikum gut bekannt, trifft die hohen C’s mit pfeilscharfer Sicherheit, geht schonungslos an Grenzen und gibt in der Stückmitte grundehrlich temporäre Erschöpfung zu. Legitim: In Brandenburg erklingen sogar jene Stellen, welche an größeren und größten Häusern aus Gnade für die von Strauss bis an die Grenzen des Machbaren strapazierte Titelbesetzung gestrichen werden. Auch die großen Bögen bewältigt Barbara Krieger imponierend mit der Sicherheit und Erfahrung aus einer langen Karriere. Sie kontert mit gesundem Selbstvertrauen auch dem gleichförmig befeuernden Dirigenten Mészáros. Generell vereinen alle in den zahlreichen Nebenpartien – zu den Mägden Lukas Eder (Alter Diener/Pfleger des Orest), Ilja Martin (Junger Diener) und Lana Hartmann (Aufseherin) – volle Kraft, Einsatzfreude und Spiellust. In der Partie gut verteilte Höhepunkte nutzte Yvonne Elisabeth Frey als Chrysothemis mit zuverlässigem Metall und satten Reserven. Von Sängerinnen wird das finstere Musikdrama „Elektra“ hier nicht nur gefürchtet, sondern auch geliebt. Denn die von Strauss fast pausenlos aufpeitschend und aufreizend gestalteten Frauenpartien ermöglichen, ja bedingen das exzessive Ausleben dunkler Seiten. Im Opernrepertoire gibt es dazu nicht allzu viele Gelegenheiten.
Auch deshalb ist die Brandenburger „Elektra“ am 1.6.2024 einen Besuch wert.

Annotation

„Elektra“. Tragische Oper von Richard Strauss, Libretto Hugo von Hofmannsthal, Musikalische Leitung: György Mészáros, Musikalische Assistenz: David Holzinger, Regie / Bühnenbild: Dr. Alexander Busche, Kostüme: Hannes Ruhland
Besetzung
Elektra: Barbara Krieger, Klytämnestra: Gráinne Gillis, Chrysothemis: Yvonne Elisabeth Frey, Orest: Frederik Baldus, Aegisth: Sotiris Charalampous, 1. Magd: Denise Seyhan, 2. Magd: Oleksandra Diachenko, 3. Magd: Anna Werle, 4. Magd: Nataliia Ulasevych, 5. Magd: Natallia Baldus, Ein alter Diener: Lukas Eder, Ein junger Diener: Ilja Martin, Die Aufseherin: Lana Hartmann, Brandenburger Symphoniker

Premiere 24.5.2024; besuchte Vorstellung 26.5.2024; veröffentlicht 28.5.2024

Credits
Text: Roland H. Dippel, freier Theaterkritiker, Leipzig/München
Foto: © Enrico Nawrath / Brandenburger Theater

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