Home | Theater/Musik | Böse wie bei Stephen King: Shchedrins “Lolita”
Böse wie bei Stephen King: Shchedrins “Lolita”

Böse wie bei Stephen King: Shchedrins “Lolita”

Tschechische Erstaufführung am Ständetheater Prag.

Die Doppelpremiere am 3. und 5. Oktober im Ständetheater Prag war die tschechische Erstaufführung, erst die zweite Produktion in der russischen Originalsprache und weltweit vierte der Oper „Lolita“ nach Vladimir Nabokov. Mstislaw Rostropowitsch dachte bereits 1955 nach Erscheinen der Erstausgabe in französischer Sprache an eine Vertonung des Romans, der erst nach der bewegten Empörungs-, Skandal- und Revisionsgeschichte in Russland und damit Nabokovs Muttersprache Russisch erscheinen konnte. Rostropowitschs Vorhaben realisierte sich fast 40 Jahre später, als er am 14. Dezember 1994 an der Königlichen Oper Stockholm die Uraufführung der Vertonung durch Rodion Shchedrin (Schtschedrin, geb. 1932) dirigierte. Nicht an der Opéra de Bastille, weil es in Frankreich Probleme mit den Rechtsinhabern des Romans gab. Die für den russischen Theaterpreis Die Goldene Maske nominierte Erstaufführung im Perm folgte 2003. Vor der deutschen Erstaufführung in Wiesbaden 2011 hatte Shchedrin seine über dreistündige Partitur fast um ein Drittel gekürzt. Bereits 2001 stellte er symphonische Fragmente als „Lolita-Serenade“ zusammen.

von Roland H Dippel

Noch heute geht die Handlung unter die Haut, obwohl die Wirkung des Romans „Lolita“ sich in den letzten Jahren von der inhaltlichen stärker auf die ästhetische Diskussion verlagerte. Auch bei der tschechischen Erstaufführung am 5. Oktober 2019 zerstreut sich das massive Unbehagen an Nabokovs brillant-tückischer Prosa nicht, weil Rodion Shchedrin die Vielschichtigkeit der Vorlage in seinem Textbuch weitgehend bewahren konnte. Mehrere Plätze blieben leer nach der Pause, obwohl diese früher gesetzt wurde als in der Partitur vorgesehen und deshalb die am meisten verstörenden und polarisierenden Szenen später kamen, nämlich die sexuelle Vereinigung des Schriftstellers Humbert mit der von ihm belogenen, erpressten Minderjährigen Dolores Haze. Auch in der Oper Prag bewegt sich das Sujet zwischen Satire und Psychodrama, das in Humberts Mord an dem Päderasten Clare Quilty gipfelt.

Shchedrin sicherte sich geschickt gegen potenzielle Kritik wegen Voyeurismus, der Darstellung anstößiger Inhalte und einer pornographischen Ausrichtung ab: Die Haupthandlung beginnt in der Oper erst nach einem Prolog, in dem Humbert die Todesstrafe für seinen Mord an der impotenten Parallelfigur Clare Quilty ablehnt, die 40-jährige Gefängnisstrafe für seinen verwerflichen Umgang mit Lolita aber akzeptiert. Shchedrin gibt dem Publikum auch keine Möglichkeit, eine emotionale Innenschau des Protagonisten zu erleben. Die Leistung des erst 32-jährigen Baritons Petr Sokolov ist umso mehr von bezwingender Wirkung.

Der oft mit starken Bildwirkungen und neutralisierender Personenführung arbeitenden Regisseurin Sláva Daubnerová war die Milieustudie weitaus wichtiger als sexuelle Drastik. Das sollte man aber keineswegs als mangelnden Mut oder Angst vor der Empörung des Publikums verstehen. Die Räume sind bis zu den als Parlando-Fontänen komponierten Kondom- und Zigaretten-Werbungen von schäbiger Abgründigkeit: Boris Kudlička gliederte die Drehbühne in austauschbare Zellen. Das Eigenheim-Paradies von Lolitas Mutter Charlotte, aber auch die anderen Schauplätze bis zum Motel „Die verzauberten Jäger“, wirken fragmentiert, temporär, einsturzgefährdet. Über Möbel und Leuchtreklamen legt Daniel Tesař aschgraue Filter, als leide bereits die My-Carthy-Ära unter Smog. Natalia Kitamikados Kostüme sind in ihrem plakativen Realismus überspitzt. Im ersten Teil wirkt Pelageya Kurennaya als Dolores-Lolita als Jeans-Girl groß und robust, wird erst nach der Pause fraulicher und gebrochen. Humbert trägt seinen grünen Pulli wie eine zweite Haut – verzogen, krampfig und sogar etwas schmierig. Die Nebenrollen bleiben Alltagsmarionetten ohne psychisches Profil.

Der als Leiche und mehrfach als Katastrophen-Bote auftauchende Clare Quilty, der Lolita auf seiner Farm zu bizarren Spielen zwingt, wird zum vielleicht eine Spur zu plakativ personifizierten Bösen. Fast schade, denn Alexander Kravets ist in Stimme und Ausstrahlung eiskalt, wäre als Persönlichkeit weitaus mehr bei Alfred Hitchcock als bei Stephen King. Den Abend durchziehen blinde phallische Requisiten. Humbert fesselt Charlotte, bevor sie dessen Neigung für ihre Tochter entdeckt, in ihrem Schöner-Wohnen-Paradies mit dem Gartenschlauch. In einer Auseinandersetzung mit Lolita gestikuliert er wild mit dem Tankkolben.

Die gesangliche und darstellerische Leistung der russischen Sänger in den Hauptpartien schafft durch pointierte Darstellung permanentes Unbehagen. Mit der zwischen perfekt polierter Fassade und Hysterie schwankenden Charlotte in der Darstellung der fulminanten Daria Rositskaia fällt die Identifikation am leichtesten. Denn diese Frau, mehr Doris Day als „schlechte Marlene Dietrich“, wie sie Humbert nennt, ist die Königin der Einbauküchen. Probleme mit dem Nachwuchs können nicht ausbleiben. Ihre Tochter hat in der von Humbert versehrten Patchwork-Familie auf Zeit eine vitale und alles andere als elfenzarte Körperlichkeit: Erst nach der Defloration und im durch Leid beschleunigten Entwicklungssprung nähert sich Pelageya Kurennaya vage dem an, was das ideale Frauenbild der 50er Jahre war: Ein Treibauf wird nur aus Leidensdruck zum Schwan.

Dazu passt, dass sich Sergey Neller mit dem Orchester der Staatsoper, was bei Shchedrins Partitur natürlich verführerisch naheliegend wäre, nicht die Reizwirkungen der mit virtuos.klangmächtigen Amerikanismen, melodramatischen Blow Ups und retro-impressionistischem Kolorit durchsetzten Partitur in den Vordergrund zu spielen. Die Konversationen und Ausbrüche sind in dieser Premiere ein langer, aber alles andere als stiller Fluss, aus denen die Szenen des quälend bösen Quilt verzerrt aufrauschen. Aber auch das könnte eine dramaturgische Zuspitzung dessen sein, dass der „amerikanische Traum“ auch immer ein „Kampf gegen das Böse“ ist. Die Prager Inszenierung zeigt also mit mindestens ebenbürtiger, wenn nicht überragender Deutlichkeit anhand der „Akte Lolita“ eine soziale und psychische Trümmerlandschaft. Die Konstellation des übergriffigen Mannes setzt sich in den Gruppierungen des von Petr Louženský ausgezeichnet geführten Kühnschen Kinderchor und der vom Tanzensemble mit starker Präsenz verkörperten Gruppe von Mädchen fort.

Den bei der Premiere anwesenden Komponist feierte man mit dem Ensemble sowie allen Mitwirkenden kräftig und lautstark. Trotz einiger Effekte wie das nach Charlottes tödlichem Unfall in den Bühnenhimmel hochgezogene Auto ist die Prager Erstaufführung von „Lolita“ ein Beweis für die musiktheatrale Kraft feinmaschiger Ausdrucksmittel. In diesem Sinn war die erste Premiere des neuen Intendanten Per Boye Hansen ein beeindruckender Erfolg.

 

Annotation:

Vorstellungen in russischer Sprache (mit englischen und tschechischen Übertiteln) am 11., 19., 25. Okotober 2019 – 10., 14. November – 8, 10. Januar 2020 / Informationen zur Produktion und Tickets: https://www.narodni-divadlo.cz/en/show/14452?t=2019-10-03-19-00

Credits:

veröffentlicht: 8.10.2019

Foto: Patrik Borecký

Scroll To Top