Stölzels Passionsoratorium “Ein Lämmlein geht…” bei den Thüringer Bachwochen.
Am Karfreitag 1734 gab es in der Thomaskirche keine Aufführung einer Passion von Johann Sebastian Bach, sondern des mit ihm gut bekannten Gottfried Heinrich Stölzel. Textdruck-Funde in Leipzig und St. Petersburg bestätigen, dass Bach in Leipzig für das Kirchenjahr 1735/36 auch einen Kantaten-Jahrgang des 1719 von Herzog Friedrich II. in Gotha zum Hofkapellmeister berufenen Stölzel angenommen hatte. Anlässlich des 300. Jahrestags der Uraufführung von Stölzels Passionsoratorium „Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld“ kam es am Karsamstag zur ersten Koproduktion der Thüringer Bachwochen und des Bachfests Leipzig: Die durch eine vom Verein Mitteldeutsche Barockmusik großzügig unterstützte Wiederaufführung in der Schlosskirche Gotha und beim Bachfest am 15. Juni 2019 in der Thomaskirche.
von Roland H Dippel
Ehrgeiziger Start in Gotha
Ein Zufall führte einmal mehr zu einer musikgeschichtlich aufregenden Entdeckung. Am Karfreitag 1734 gelangte in der Thomaskirche das Passionsoratorium „Ein Lämmlein geht und trägt die Schul“ zur Aufführung. Gottfried Heinrich Stölzel (1690-1749) hatte die von ihm mit besonderer Sorgfalt gestaltete Partitur für den ersten großen Anlass im Amt des Gothaer Hofkapellmeister komponiert. Bachfest-Intendant Michael Maul erwähnte in seiner Einführung, dass das Notenmaterial für die beiden Konzerte in der Schlosskirche Gotha und in der Thomaskirche Leipzig nach einem Stimmensatz aus den Beständen der Fürstlichen Hofkapelle Sondershausen eingerichtet wurde.
Passionsoratorium aus dem Bach-Umfeld
Die Aufmerksamkeit in der fast ausverkauften Schlosskirche von Schloss Friedenstein war groß. Doch die tatsächliche Wirkung lässt sich nur unmittelbar erschließen. Am Karsamstag spürte man hinter dem pietätvoll gemäßigten Applaus dennoch Zustimmung.
Das zeugt auch von Bewunderung für den Dirigenten Hermann Max, Das kleine Konzert und die Rheinische Kantorei. Nach zahlreichen Wiederentdeckungen und Einspielungen großer Sakralwerke von Johann Heinrich Rolle bis Johann Gottlieb Naumann ist Hermann Max als Kenner des spätbarocken Oratorienschaffens im deutschen Sprachraum wohl konkurrenzlos. Er entschied sich für eine Wiedergabe, in der die Strukturen und die formale Architektur des Werkes deutlich werden, aber auch Analogien und Unterschiede zu den Zeitgenossen Bach, Christoph Graupner, Reinhard Keiser und Georg Philipp Telemann. Denn in diese hochrangige Gruppe von Passions- und Kantatenkomponisten gehört Stölzel aufgrund seiner bemerkenswert individuellen Vertonung.
Dominierende Männerstimmen und dramatische Kraft
Mit dem Tenor Markus Brustscher und dem Bassisten Martin Schicketanz standen für die beiden Evangelisten-Partien sensibel agierende und vokalen Überschwang meidende Besetzungen auf dem Voraltar. Den hohen Solopartien (Franz Vitzthum und Veronika Winter) hat Stölzel die allegorischen Partie der gläubigen Seele zugeteilt und die Choräle mit „Die christliche Kirche“ überschrieben. Sofern das erste Hörerlebnis nicht täuscht, gibt es bei Stölzel weitaus weniger Koloraturen als bei Bach.
Mit dem selbstverfassten Textbuch erweist sich Stölzel als geschickter dramatischer Stratege. Er verknappte Episoden aus allen vier Evangelien und heizte sie mit vielen emotionalen Attributen auf. Alles steuert zu auf die umfangreiche Kreuzigung, die etwa ein Viertel der zwei Stunden Spieldauer ausmacht. Im Textbuch ist das die Schuld der Welt tragende Gotteslamm fast leitmotivisch präsent, aber Jesus spricht nicht direkt. Trotzdem haben die ausgedehnten Rezitative durch den dialogischen Wechsel von Tenor und Bass sowie die stark illustrierende Orchestration eine sich immer mächtiger aufbäumende Bewegtheit.
Die Männer dominieren vor den hohen Stimmen. Es gibt mehr Choräle als in den Passionen Bachs, dafür keine Aktionschöre. Immer wieder dialogisieren Soloinstrumente und Stimmen – zum Beispiel in der Arie Nr. 24 „Mein Jesus soll mein König sein“ die Violine mit dem von Stölzel melodisch luxuriös bedachten Solo-Bass. Am Ende und an den Positionen, wo in Bachs Passionen die emotional stärksten Soli stehen, lässt Stölzel den Arien-Segen während der Martern des Tods am Kreuz versiegen.
Genauigkeit und emotionale Mäßigung
Durch sehr spezifische Wechsel zwischen Orchester-Rezitativen, von denen einige Richtung Mozart und Gluck weisen, und Chorälen suchte Stölzel eine fast nervöse Spannungsverdichtung. Das gipfelt in der vorletzten Nummer 62 in einem für die Entstehungszeit außergewöhnlichen Effekt: Bass, Tenor und Sopran finden sich zusammen in einem ausgedehnten und formal offenen Rezitativ-Ensemble, das durch den Wechsel der miteinander agierenden Stimmen einem Sog in graues Vakuum gleichkommt. Schon durch diese Kontemplation, aber auch durch die liedhaft-schlichte Gestaltung der Arien ist diese Wiederentdeckung weitaus mehr als eine wissenschaftlich-editorische Leistung.
Hermann Max, der während der Rezitative oder beim Konzertieren der Solostimmen und -instrumente oft die Hände sinken lässt, drängt zu Deutlichkeit, Präzision und Akkuratesse. Deshalb bleibt das Solistenquartett in einem warmen, doch noch immer objektivierendem Gestus. Dabei unterläuft Stölzel die hier kultivierte Sachlichkeit mit einem Melos, in das man sich gut fallen lassen könnte. Aber man merkt auch: Hierzulande steckt das Synonym von Protestantismus und emotionaler Mäßigung noch immer sehr tief in vielen Musiker-Köpfen.
Annotation:
Besuchtes Konzert: Sa 20.04.2019, 16:00 Uhr (Schlosskirche Gotha, Thüringer Bachwochen); veröffentlich am 25.04.2019
Was noch:
Wieder zu Bachfest Nr. 22, Passion: Sa 15.06.2019, 20:00 Thomaskirche Leipzig – www.bachfestleipzig.de – G. H. Stölzel: Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld, aus der Notenbibliothek J. S. Bachs (erste Leipziger Wiederaufführung) – Veronika Winter (Sopran), Franz Vitzthum (Altus), Markus Brutscher (Tenor), Martin Schicketanz (Bass), Rheinische Kantorei, Das Kleine Konzert, Leitung: Hermann Max – Das Konzert wird von Deutschlandfunk Kultur mitgeschnitten. – Konzerteinführung: 19.00 h, Zeitgeschichtliches Forum, Dr. Klaus Rettinghaus – Eine Kooperation zwischen Thüringer Bachwochen und Bachfest – Gefördert durch die Mitteldeutsche Barockmusik in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen e. V.
Crededits:
Herman Max und die Rheinische Kantorei
Foto (2): © Jens Haentzschel