Humperdincks „Hänsel und Gretel“ frei von Angstfaktoren
Traditionsbewusste könnten beim Anblick des bunten Sahnebergs, der in der neuesten Inszenierung von Humperdincks „Hänsel und Gretel“ am Freiberger Theater das, weil oft gesehen, erwartete Lebkuchenhaus ersetzt, zunächst irritiert sein. Intendant Sergio Raonic Lukovic bietet mit seiner Interpretation einen aufregenden, temporeichen Ausflug in eine coole Märchenwelt voller beeindruckender Effekte und bereichert durch faszinierende Videoeinblendungen. Musikalisch bleibt die Inszenierung auf höchstem Niveau.
Von Frieder Krause
Warum sollte ein Regiekonzept heute die Geschichte von 1890 nicht einmal auf diese zeitnahe Weise erzählen und bebildern? 2024 lieben Kinder Cupcakes, und der altbekannte Ofen bleibt trotz allem für das zentrale Märchengeschehen als ein großer Lebkuchen ohne Angstfaktor im Spiel präsent.
Ein spannender Mix aus zeitgenössischen Elementen und klassischen Klängen
Die Inszenierung setzt noch weitere eigene Akzente. Bereits in der Ouvertüre unter der Leitung von José Luis Gutiérrez werden soziale Themen wie Arm und Reich, familiäre Konflikte und die Ausbeutung durch Konzerne visuell behandelt.
Die Mutter, die als Hauptverdienerin in der Familie Verpackungen für einen Süßwarenhersteller anfertigt, symbolisiert eindrücklich gegenwärtige prekäre Arbeitsverhältnisse. Zum Erkennen all dieser guten Gedanken sollten die Zuschauer unbedingt im klug geschriebenen Programmheft nachlesen. Reicht dazu aber vor der Vorstellung immer die Zeit?
Ein Ensemble in gesanglicher Höchstform
Beomseok Choi überzeugt als Vater mit einem strahlenden Bariton, während Alina Shakirova stimmlich punktet, jedoch in der Textverständlichkeit Schwächen zeigt. Das Freiberger Ensemble glänzt außerdem durch Suzan Wei, die als Sand- und Taumännchen eine vielseitige Leistung bietet.
Ein Höhepunkte: Das Geschwisterpaar und die Hexe
Das Geschwisterpaar Gretel und Hänsel begeistert mit einer beeindruckenden Performance: Lindsay Funchal und Heain Youn brillieren durch exzellente Stimmkultur, Spielwitz und Beweglichkeit. Youns humorvolle Kabinettstückchen sind ein besonderes Highlight.
Eine weitere Glanzleistung liefert Frank Unger als Hexe. Schon in den Videoeinblendungen zwischen erstem und zweitem Akt überzeugt er mit einem Wechselspiel aus fiesiger Freundlichkeit und boshaftem Grinsen. Auf der Bühne setzt er dies kongenial fort, sowohl schauspielerisch als auch mit seiner variablen Tenorstimme. Die Publikumsreaktionen mit viel Jubel für diese drei Künstler sprachen zur Premiere für sich.
Ein Star des Abends
Unerwarteter Star des Abends war besonders zur Freude des ganz jungen Premierenpublikums ein großer Stoffbär, der trotz seines Ausflugs in den Backofen unversehrt blieb. Ergänzend glänzten die Damen des Theaterchors als Gehilfinnen der Hexe und die Schülerinnen und Schüler des Geschwister-Scholl-Gymnasiums als Engel beim Abendsegen. Besonders bewegend war ihr Auftritt in Schwarz als Opfer der Hexe.
Ein gelungener Theaterabend mit Potenzial für die Zukunft
Die gelungene Zusammenarbeit der verschiedenen Gewerke – von Kostüm und Choreografie über Videodesign bis hin zu Licht und Ton – trug maßgeblich zum Erfolg des Abends bei. Die Zweitbesetzungen in Freiberg und Döbeln dürften ebenfalls die hohe Qualität der Inszenierung garantieren. Um das jüngere Publikum noch besser anzusprechen, wäre eine gekürzte Version mit Erzähler wünschenswert, ein Ansatz, den Chefdramaturg Dr. Christoph Nieder verfolgt.
Annotation
„Hänsel und Gretel“. Märchenspiel in drei Bildern von Adelheid Wette. Musik: Engelbert Humperdinck, Mittelsächsische Theater und Philharmonie gGmbH Freiberg Döbeln. Regie: Sergio Raonic Lukovic, Musikalische Leitung: Jose Luis Gutierrez/Bennet Eicke, Konzeptionelle Mitarbeit: Judica Semler, Dramaturgie: Christoph Nieder, Bühne: Peter Sommerer, Kostüme: Katharina Jacob, Choreografie: Björn Helget, Videodesign: Ahmad Sshalaby, Licht: John Gilmorre, Ton/Video: Thomas Fiedler, Choreinstudierung: Pawel Serafin, Regieassistenz/Abendspielleitung: Antonio Neppl, Inspizienz: Lukas Christoph Schergaut
Besetzung
Gretel: Lindsay Funchal/Marina Medvedeva, Hänsel. Heaun Youn/ Lara Gloria Graf, Knusperhexe: Frank Unger/Juhyuk Kim, Mutter: Alina Shakirova/ Suzan Wie, Vater: Beomseok Choi/ Frank Blees/Gregor Roskwitalski, Sandmännchen/Taumännchen: Susan Wei/Marina Medvedeva
Damenchor des MIT, Kleiner Chor des Freiberger Geschwister-Scholl Gymnassiums (Einstudierung Christian Uhlig), Kinderchor der Grundschule Mochau (Einstudierung: Lisa Häntzschel), bei den Aufführungen in Döbeln. Mittelsächsische Philharmonie
Besuchte Vorstellung: Premiere in Freiberg am 23.11.2024; Premiere in Döbeln am 30.11.2024, 19.30 Uhr; veröffentlicht 25.11.2024
Ausgesuchte weitere Vorstellungen Freiberg: 15.12.2024, 17.00 Uhr | 27.12.2024, 19.30 Uhr | 07.01.2024, 19.30 Uhr | !8.12.2024, 10.00 Uhr | 19.12.2024, 10.00 Uhr
Ausgesuchte weitere Vorstellungen Döbeln: 21.12.2024, 19.00 Uhr | 03., 04.12. 2024, 10.00 Uhr | 08.12.2024, 15.00 Uhr | 25.12.2024, 17.00 Uhr
Text: Frieder Krause, freier Theaterkritiker, Altenburg
Fotos: © Detlef Müller