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Leipzig: Nachdenken über die Welt

Leipzig: Nachdenken über die Welt

Nino Rota „La notte di un nevrastenico” & Ermanno Wolf-Ferrari „Il segreto di Susanna” Zwei Einakter in einer Studioproduktion der Hochschule für Musik und Theater

Das Geniale an dieser Vorstellung ist die dramaturgische Verklammerung zweier strukturell außerordentlich unterschiedlicher Einakter zu einem neuen Stück Musiktheater. Es erzählt vom Elend der Zerrissenheit der Welt und uns Menschen da mitten drin.

Moritz Jähnig

Szene La notte di un nevrastenicomit Emilia Holweg und Taras Semenov

Zwei Werke, drei Epochen

Die Entstehungsjahre 1909 für Wolf-Ferraris „Il segreto di Susanna / Susannas Geheimnis“ und 1959 für Nino Rotas „La notte di un nevras-tenico / Die Nacht eines Neurasthenikers“ liegen numerisch nicht weit auseinander. Doch zwischen den beiden Uraufführungen in Mailand und München liegen zwei Weltkriege, das Ende zweier Monarchien, das Morden zweier Diktaturen und noch vieles mehr. Dennoch haben wir es in den Jahren 1909, 1959 und 2024 mit Menschen zu tun, deren Verletzungen nicht heilen wollen, die keinen Halt finden und in Ritualen feststecken.

Schwierige zwischenmenschliche Beziehungen

Wenn sie von einer Autorität eine Aufgabe zugewiesen bekommen, entdecken die Figuren einen Sinn. Sie putzen und arbeiten folgsam und voller Freude. Dabei Vertrauen und zwischenmenschliche Nähe zu leben, gelingt jedoch nur begrenzt. Am ehesten funktioniert das noch beim Ausleben eines extensiven erotischen Spektrums.

Doch wenn es intim wird, kommt die Katastrophe: Susanna vermag es nicht ihrem Ehemann die Wahrheit zu sagen. Sie verheimlicht, dass sie raucht, weil eine Raucherin damals außerhalb aller bürgerlichen Normen stand. Der Ehemann seinerseits verheimlicht seine Neigung zum Hausdiener Sante – hier zugleich in der Rolle des Hotelportiers, stark und mit Mut zur Groteske gespielt von Bruno Szabó. Womit der Ehemann wie seine rauchende Frau in Wahrheit auch zum Normbrecher wird.

Nino Rota “La notte di un nevrastenico”

Bacchellis Libretto zeigt einen Neurotiker, der hofft, sich im Hotel eine friedliche Nacht zum Schlafen gesichert zu haben, da er auch die Nachbarzimmer genommen hat, im Irrglauben, dass sie leer bleiben würden. Doch es findet eine Messe statt, und der Hotelmanager führt laute Gäste auch in die reservierten Zimmer, und erst nach einigen Streitereien gelingt es dem Mann schließlich, die Störer loszuwerden; doch ohne Schlaf zu finden, denn es ist bereits Morgen, und der Zimmerdiener klopft an seine Tür mit ‚heißem Kaffee‘.

Ermanno Wolf-Ferrai “Il segreto di Susanna”

Der 30-jährige Graf Gil ist erst seit kurzer Zeit mit der um zehn Jahre jüngeren Susanne verheiratet. Als er in ihrem Privatgemach Zigarettengeruch feststellt, packt ihn die Eifersucht. Er glaubt, seine Frau habe einen Liebhaber. Dass Susanne des Öfteren eine verlegene Miene zeigt, wenn er abends heimkommt, bestärkt ihn in der Vermutung, dass sie ihn betrüge.

Gil plant, Susanne eine Falle zu stellen, um sie der Untreue zu überführen. Er verabschiedet sich von ihr und verlässt das Haus, kehrt aber kurz darauf zurück. Er hat sich nicht getäuscht; überall im Haus riecht er Zigarettenrauch. Wütend durchstöbert er alle Gegenstände, hinter denen sich der vermeintliche Nebenbuhler verstecken könnte, findet aber nichts Belastendes. Schließlich vermag ihn seine Frau zu überzeugen, dass sein „Rivale“ nur in Zigaretten besteht. Aus reiner Langeweile habe sie sich diesem Laster hingegeben.

Gil entschuldigt sich bei Susanne wegen seiner grundlosen Eifersucht. Seiner Frau zuliebe fängt er nun selbst das Rauchen an; und auch der stumme Diener entschließt sich, fortan diesem Laster zu frönen.

nach: wikipedia

Starke Figuren und moderne Inszenierung

Rebecca Ibe macht Susanna mit ihrer vollen, kultivierten Sopranstimme zu einer starken Frauenfigur. Die Hochschulinszenierung erzählt ihre Geschichte jedoch nicht mit verstaubt-heiteren (Operetten-)Ton auf die einsichtigen Eheleute hin weiter, wie es Wolf-Ferrari und sein Librettist Enrico Golisciani ursprünglich gedacht hatten. In dieser Lesart steht am Ende Ehemann Gil, angenehm und stimmlich fest verkörpert von Tom Nicholson, Hand in Hand mit einem Mann.

Max Nattkämper, selbst Regiestudent an der Hochschule für Musik „Hanns Eisler“ Berlin, zeigt, wie sich gesellschaftliche Umgangsformen weiterentwickelt haben, ohne Genderfragen plakativ in den Vordergrund zu rücken.

Szene

Aufgrund der Erkrankung von Miltiadis Tzimourtos spielte Nattkämper in der besuchten Vorstellung die Rolle des Commendatore selbst. Gesungen wurde die Partie vom genialen Musikalischen Leiter Prof. Ulrich Pakusch vom Flügel aus, genial, um dieses Adjektiv hier noch einmal berechtigt anzubringen.

Der erfahrene Dirigent und Opernschul-Leiter hatte den Doppelabend 2018 bereits an der Hochschule für Musik Würzburg herausgebracht. Bühne und Kostüme gestaltete Elena Popova.

Eine schlaflose Nacht mit komischen Figuren

Dem Intermezzo um die rauchende Susanna ging Nino Rotas Farce um einen reichen Neurotiker in der Abfolge voraus. Der Neurotiker, dargestellt von dem sehr witzig agierenden Iason Liossatos, kann nicht schlafen und hat daher alle Zimmer neben seinem mitanmietet, um seine Ruhe vor Lärm zu haben. Natürlich klappt das nicht, denn der Portier quartiert einen Kriegsveteranen, Il Commendatore. Zudem treiben sich weitere Figuren herum, gespielt von Emilia Holweg und Taras Semenov, die mit ihrer unbändigen Spielfreude überzeugen.

Modernes Musiktheater in Höchstform

Ein sehr angenehmer Abend, der beispielhaft zeigt, wie mitreißend, unterhaltsam und kraftvoll modernes Musiktheater sein kann. Nur eines macht traurig: dass die Anzahl der Aufführungen bei Studioproduktionen begrenzt ist.

Credits

Premiere 8.11.2024; besuchte Vorstellung 11.11.2024; veröffentlicht 12.11.2024, 2:00 Uhr, aktualisiert 7:16 Uhr

Text: Moritz Jähnig; freier Theaterkritiker, Leipzig

Fotos: Yannic Borchert

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