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Annaberg-Buchholz: Gothic-Revue mit Sex und Wahnsinn

Annaberg-Buchholz: Gothic-Revue mit Sex und Wahnsinn

In Annaberg-Buchholz gibt es mit „Satanella“ eine Oper des britischen Opern-Tausendsassas Balfe

Das Theater Annaberg-Buchholz ist in Sachen Entdeckungen aus Vergangenheit und Gegenwart weitaus mutiger als größere Häuser in Sachsen. Auf „Falstaff“ (2022) folgte dort als zweite deutsche Erstaufführung einer Oper des irischen Komponisten Michael William Balfe „Satanella or The Power of Love“ („Satanella oder Die Macht der Liebe“, 1858). Das Publikum reagierte begeistert auf dieses Paradebeispiel aus dem hierzulande kaum bekannten Opernschaffen Großbritanniens im 19. Jahrhundert.

Von Roland H. Dippel

Szene aus „Santanella“, Opernchor und Martha Tham (Rupert)

Einflüsse aus dem „Freischütz“ und die historische Uraufführung

Auch in „Satanella“ hat Webers als Inszenierung von Christian von Götz im Repertoire der Oper Leipzig stehende „Freischütz“ seine Spuren hinterlassen. Wer möchte, kann in der Darstellung der Dämonin Samiel am Augustusplatz durch Verena Hierholzer und ihrem großen Part als Teufelin Arimanes am Eduard-von-Winterstein-Theater einige Parallelen entdecken. Die äußerst freie und ziemlich brave Adaption von Jacques Cazottes Kurzroman „Der verliebte Teufel“ von 1772 durch die Librettisten Augustus Harris und Edmund Falconer war am 20. Dezember 1858 die erste Uraufführung im nach einem Brand 1856 neu errichteten Londoner Opernhaus Covent Garden. Natürlich kam es im Regierungsjahr 21 von Queen Victoria zu einigen erotischen Entschärfungen von Cazottes geistreicher Prosa. Wie schon bei „Falstaff“ 2016 erfolgte die Einstudierung in Annaberg-Buchholz der Neuausgabe von Valerie Lengfield. Die Balfe-erfahrene Erzgebirgische Philharmonie Aue zeigte Schmiss und Schmelz. Es war die letzte Einstudierung am Haus durch den scheidenden GMD Jens Georg Bachmann. Einen Großteil der Vorstellungen übernimmt Dieter Klug.

Ein Teufel im Wandel: Satanella und die queere Dimension

Die grundsympathische Satanella folgt zwar der höllischen Aufforderung, in die Nähe Ruperts zu kommen, hat bei diesem satanischen Zerstörungsauftrag wegen echter Liebe zum Opfer allerdings so gar keinen Erfolg. Mit Lust am Verstörungspotenzial stocherten der auch für Bühne und Kostüme antretende Christian von Götz und das Ensemble in den Abgründen des galanten, schwulen und esoterischen Cazotte. Dessen „diable amoureux“ ist genau genommen ein schwuler bzw. queerer Teufel, der sich mit Hoffnung auf Liebe und Lust in eine frauliche Schönheit verwandelt. „Der Satan träumt nicht“ und „Bis der Tod euch scheidet“ dräuen Kreideschriftzüge auf den das Spielgeschehen umrandenden Paravents. Ironie, Authentizität und Wissen verschwimmen zum Vorteil eines entfesselten Theaters. Hinter dem phantastischen Aufputz wird deutlich: „Letzten Endes atmet jede Teufelsgeschichte die Angst vor Emanzipation, Gerechtigkeit und Veränderung.“ artikulierte von Götz. Seine aus dem dunklen Motivreservoir der gotischen Schauerliteratur zusammengesetzte Rahmenhandlung wird über weite Strecken des Abends wichtiger als Balfes Romanzen-Gut für den Primadonnenpart der Satanella.

v.l.n.r.: Jakob Hoffmann (Pater Braccacio)
und Richard Glöckner (Carl).
Foto: Sebastian Paul / Medienproduktion 16zu9

Ein Spiel mit Identitäten: Geschlechterrollen und Verwandlungen

In der Annaberger Spielfassung legt die eigentliche Hauptfigur Carl dem Pater Braccacio die Beichte seiner Obsessionen ab. Carl glaubt, seine Braut getötet zu haben und dass diese sich in Gestalt einer Teufelin an ihm rächen wird. Immer wieder bis zu Carls Tod in den Armen des von jähen Emotionen übermannten Paters mischt sich diese Tat ins turbulente Geschehen. Sein anderes Ich tritt in Carls Erzählungen mit verdoppelter Gestalt auf. Grund dafür war, dass der Tenor Martin Mairinger sich kurz vor Probenbeginn den Arm gebrochen hatte. Martha Tham übernahm die anspruchsvollen szenischen Aktion mit aparter, nicht vordergründiger Androgynie und verkörperte die Figur neben dem „nur“ singenden Parade-Tenor mit hohem D. Der Gender-Switch funktionierte, weil er den erotischen Anarchismus, die Abgründe zwischen Schein und Sein vergrößert. Satanella und der ebenfalls in eine Stimm- und Spielpartie aufgeteilte Teufel Arimanes bilden sogar etwas wie eine infernalische Dreifaltigkeit. Wenzheng Tong singt, Sarah Chae als Satanella wird fast so etwas wie eine lyrische Madonna und die Tänzerin Verena Hierholzer klebt wie eine Fledermaus im Geäst eines toten Baumes. Hierholzer begleitet, hetzt und terrorisiert Satanella, aber auch alle anderen. Nicht zuletzt gerät der Pater Braccacio in den Strudel von Carls phantastischen Erzählungen. Der Bariton Jakob Hoffmann füllt diese Schlüsselfigur exzellent und bewegend aus.

Satanella als Spiegelbild unserer Zeit

Ob eine solche „Power of Love“ erstrebsam wäre, ist fraglich. Aber sie wird verständlich: Der kleine und von Kristina Pernat Š?an?ar souverän auf die choreographischen Marionetten-Sequenzen vorbereitete Opernchor zeigt eine fashionable, aber repressive Gesellschaft. Wie biedermeierliche Ziehpuppen bewegen sich die Chorfrauen. Die Männer steuern mit Frack und Zylinder eine harte Prügelszene bei. Vieles, was man von viel später entstandenen Offenbachiaden kennt, irrlichtert bereits durch Balfes gründlichst an Auber geschulter Partitur. Die eingeschobenen Balladen, eine typische Eigenheit des britischen Musiktheaters, halten keineswegs auf. Zu ganz großer Form mit Meyerbeer-Effekten wachsen ein Beschwörungsterzett und andere Ensembles im dritten Alt.

Überlegt auch das Casting: Wenzheng Tong gibt Hierholzers auf den Bühne wie Webers Samiel-Dämon schwadronierenden Weibsteufel Arimanes die berückende Stimmschönheit eines gefallenen Engels. Schade, dass Richard Glöckner, welcher den Carl zwischen Zärtlichkeit, Grauen und Wahnsinn überaus expressiv aufreißt, so wenig zu singen hat. Bis in die nicht so dominieren1den, trotzdem wichtigen Partien von Bettina Grothkopf (Stella), Maria Rüssel (Lelia) und László Varga (Hortensius) hat ETO ein rundum eindrucksvolles Ensemble mit gleich mehreren Glanzlichtern zusammen. Martin Mairinger ganz in Schwarz vom Kopfstrumpf bis Trikot und Sohle singt nahezu orpheisch. Dazu hat Mairinger ein betörendes Eigentimbre, das seinen perfekten lyrischen Linien eine apart virile Farbe gibt. Die Koreanerin Sarah Chae verkörpert Satanella mit mehr Herz, als einer Teufelin ansteht. Sie steckt auf der falschen Seite des religiösen Dualismus, was immer wieder zu drastischen Umklammerungen mit Hierholzers Dämonin Arimanes führt. Chae singt dazu himmlisch.

Die Annaberger Erstaufführung „Satanella“ feiert die Kunstform Oper in der Kategorie des bizarren Wunderbaren. So wäre „Satanella“ auch ein Haupttrumpf beim nächsten Leipziger Wave-Gotik-Treffen und allen Brutstätten einer noch immer äußerst relevanten Schwarzen Romantik.

Annotation

„Satanella oder Die Macht der Liebe“. Romantische Oper in vier Akten von Michael William Balfe. Libretto von Augustus Harris und Edmund Falconer nach „Le Diable amoureux“ von Jacques Cazotte. In englischer Sprache mit deutschen Dialogen. Eduard-von-Winterstein-Theater/Erzgebirgische Theater- und Orchester GmbH. Jens Georg Bachmann / Dieter Klug (Musikalische Leitung), Christian von Götz (Regie, Bühne, Kostüme), Kristina Pernat Ščančar (Chor), Lür Jaenike (Dramaturgie)

Besetzung

Sarah Chae (Satanella), Maria Rüssel (Lelia), Bettina Grothkopf (Stella), Nadine Dobbriner (Eine Lady), Martha Tham (Rupert), Martin Mairinger (Rupert – Stimme), Richard Glöckner (Carl), László Varga (Hortensius), Jakob Hoffmann (Pater Braccacio), Verena Hierholzer (Arimanes), Wenzheng Tong (Arimanes – Stimme), Yuta Kimura / Lukáš Šimonov (Spieler); Opernchor des Eduard-von-Winterstein-Theaters,
Erzgebirgische Philharmonie Aue

Premiere und besuchte Vorstellung 19.10.2024; veröffentlicht 20.10.2024

Credits

Text: Roland H. Dippel, freier Theaterkritiker, Leipzig/München

Foto (2): Dirk Rückschloß / Pixore Photography

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