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Ruhrfestspielhaus: Eine ehrliche „La Bohème“

Ruhrfestspielhaus: Eine ehrliche „La Bohème“

Ensemble Compagnia d’Opera Italiana di Milano bietet authentisches Musiktheater ohne Prunk

Ohne besonderes Aufhebens begeht die Opernwelt den 100. Todestag von Giacomo Antonio Domenico Michele Secondo Maria Puccini (* 22. Dezember 1858 in Lucca; † 29. November 1924 in Brüssel). Aufgrund seiner weltweiten Omnipräsenz im Opernrepertoire zeigt das Jubiläumsjahr Anzeichen von Müdigkeit. Aber auch Außergewöhnliches ist zu erleben.

Von Roland H. Dippel

Blick in das Ruhrfestspielhaus Recklinghausen

Zeitgemäße Interpretationen: „Madame Butterfly“ und mehr

Innovative Ansätze gab es bereits vor dem Jubiläumsjahr, etwa in der Dessauer Neuproduktion von „Madame Butterfly“, in der Cio Cio San nicht mehr wegen eines gebrochenen Herzens oder Ehrverlustes Selbstmord begeht, sondern selbstbewusst geht. Diese modernen Interpretationen zeigen, dass Puccini in den seltensten Fällen über den Kopf funktioniert, wie am ehesten noch in der von faschistischer Semantik umgebenen „Turandot“.

Klassische „La Bohème“-Inszenierungen und die Compagnia d’Opera Italiana

„La Bohème“-Inszenierungen großer Opernhäuser sind oft jahrzehntealt und bieten für die dritte oder vierte Generation von Zuschauern eine Art „Nestwärme-Effekt“. Dies gilt für die Inszenierungen von Otto Schenk im Münchner Nationaltheater, Peter Konwitschny in Leipzig oder Franco Zeffirelli an der Wiener Staatsoper. Die Compagnia d’Opera Italiana, die seit 1948 durch Europa tourt, setzt in ihrem 76. Jahr auf eine einfachere, aber emotional ansprechende Inszenierung, die Konsuminstinkte wie Wiedererkennbarkeit und Genussfreude anspricht.

Eine Schlichte, aber authentische „La Bohème“ in Recklinghausen

Die Compagnia d’Opera Italiana machte am 13. Oktober Station im Ruhrfestspielhaus Recklinghausen. Trotz der imposanten Glasfassade und der kulturellen Gastspielreihe war nur etwa ein Drittel der Plätze besetzt. In dieser ruhigen, fast entspannten Atmosphäre fanden sich jedoch einige Musiktheater-Reisende, die ernsthaftes Interesse an der traditionsbewussten Inszenierung zeigten. Das Ensemble verzichtet auf öffentliche Zuwendungen und bot eine reduzierte, aber bemerkenswerte Aufführung.

Musikalische und szenische Reduktion als Chance

Obwohl das COROrchestra de Cortona unter der Leitung von Alvaro Lanzano mit nur 20 Musiker*innen auftrat und einige Instrumentallinien aus Puccinis dichtem Orchestersatz fehlten, traten dadurch die zukunftsweisenden Aspekte des Werks deutlicher hervor. Die Streicher klangen so fragil, dass man beim Entstehen der Liebe von Rodolfo und Mimì bereits das tragische Ende erahnen konnte. Die fehlenden Übertitel forderten das Publikum zu intensiverem Beobachten, was der Inszenierung eine besondere Authentizität verlieh.

Starke Darstellungen und Schlichtheit als Stärke

Die Schlichtheit der Inszenierung brachte die Armut und Bitternis des Milieus besser zum Vorschein als in vielen üppiger inszenierten „La Bohème“-Produktionen großer Opernhäuser. Die Freude der Künstler über ihren Weihnachtsausflug und das authentische Leiden von Lara Leonardi als Mimì, deren Weg in die Schwindsucht erschütternd ehrlich war, hinterließen bleibenden Eindruck. Ricardo Crampton als Maler Marcel, Max Medero als Philosoph Colline und Dario Giorgolè als Musiker Schaunard überzeugten ebenso wie Mirco Felici in den Rollen des Vermieters Benoît und des ausgebremsten Verehrers Alcindoro. Besonders beeindruckend war Eva Macaggi als Musetta, die den Aufstieg von einfachen Verhältnissen zum Szenestar glamourös, aber auch schwierig darstellte. Vladimir Reutov gab dem Dichter Rodolfo eine jugendliche Forschheit und zeigte die ersten Gebrauchsspuren des Lebens in seiner problematischen Episode mit Mimì.

Fazit

Insgesamt war diese „La Bohème“ ein weitaus ehrlicherer Beitrag zum Puccini-Jubiläum als so mancher hoch subventionierte Versuch in den großen Kulturzonen. Mit wenigen Möbeln und Requisiten bewies diese Inszenierung, dass auch armes Theater sehr authentisches Theater sein kann – ohne Bravour und Exklusivität, aber dafür mit viel Wahrheit.

Credits

Text: Roland Dippel, freier Theaterkritiker, Leipzig/München

Foto: Ruhrfestspiele/ Archiv

besuchte Vorstellung 14.10.2024; veröffentlicht 16.10.2024; der komplette Text in nmz/16.10.24

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