Company IVONA zeigte „Selective Breeding“ in der Musikalischen Komödie
Leipzig tanzt!
Der zweite Festivaltag setzt im Programm um, was einer der Grundgedanken von „Leipzig tanzt!“ ist: das Nebeneinander verschiedener ästhetischer Handschriften und Tanzstile auf Leipziger Bühnen zu zeigen. In der Oper gab es „Peer Gynt“ von Slowenischen Nationaltheater Maribor, in der Musikalischen Komödie „Selective Breeding“. Hier eine tänzerisch erzählte Geschichte, da eine im Beat stampfende Bildfolge. Hier anhaltender Beifall und Standing Ovaions für ein sich erschöpft und glücklich verneigendes Ensemble, dort Türenknallen, eine irgendwo im Boden verschwindende Truppe, ein kurzer heftiger Beifall, das Publikum verkrümelt sich. Whats happened?
Von Moritz Jähnig
Lichtverhangene Bühnenkulisse
Die Bühne ist ein flachgehaltener dunkler Raum, die Wände glatt und wie mit schwarzer Folie ausgekleidet. Von der Decke hängen quer grell und eisig leuchtende Neonröhren. 70 Minuten schlagen gnadenlos treibend die Live-Beats von DJ Ver-mouth Gassosa. In der Muko, dem Tempel der leichten musikalischen Unterhaltung, ist Techno angesagt. Die vor einem Blick in die Raumtiefe bewahrenden Lichtinstallationen von Angelo Tauro halten die Szene im Vagen. Es bleibt düster. Man ahnt mehr, was geschieht oder geschehen kann, als dass man es sieht. Aber man ahnt es genau.
Bildreiche Assoziationen
Handlung hat das Tanzstück nicht. Es folgt Bild auf Bild und ruft bei jedem andere Assoziationen ab. Die Bildfolge beginnt auf der rechten Bühnenseite am Arbeitstisch einer Metzgerei oder Sushi-Bude. Über dem von unten her schaurig leuchtenden Tresen hängt an zwei großgliedrigen Ketten ein Fisch. Ein Hecht vielleicht? Oder vielleicht etwas ganz anderes. Hinterm Tresen hantieren in weißen Schutzkitteln zwei Individuen, ein Schlachter vielleicht mit seinem Beil und ein Wissenschaftler. Neben dem Tisch kniet ein weiblicher Körper. Das Gesäß wird leicht obszön gehoben, wie Omi sagen würde. Das Individuum auf dem Boden spricht Text, der idiomatisch nicht eindeutig zuzuordnen und überhaupt akustisch schwer verstehbar ist. Das liegt mit an den Tücken der Muko-Bühne.
Die Company IVONA
Die zeitgenössische, projektbasierte Company IVONA wurde 2019 von Pablo Girolami gegründet. Als Zusammenschluss verschiedener Künstlerinnen und Künstler, die sich in diversen künstlerischen Sprachen, auch jenseits des Tanzes, engagieren, versteht sich IVONA als zeitgenössisches Zeugnis professioneller künstlerischer Forschung
auch jenseits des Tanzes, engagieren, versteht sich IVONA als zeitgenössisches Zeugnis professioneller künstlerischer Forschung.
Schlagen und lieben, verharren und verändern
Auf der linken Bühnenseite ergehen sich vier andere Tänzer zwischen Ketten und Gestänge in Gruppensex-Posen aus der BDSM-Welt. BDSM und Gewalt machen etwas mit ihren Jüngern und formen sie. Dadurch – vielleicht – gerät plötzlich alles außer Kontrolle. Schneller als die Beats akustisch schlagen können, fallen die sechs Akteure übereinander her und zerlegen die wenigen Dekorationsstücke. Schlussendlich übersteht nur der weiter ungerührt grausig leuchtende Arbeitstisch des Schlachters das Gemetzel. Ein Altar des Infernos.
Bewegungen und Ausdruck
Das Bewegungsvokabular: ein bizarres, manchmal neckisches Trippeln, das die Beats der Musik aufnimmt. Die Körper sind nie in Ruhe. Sie schieben den Unterleib nach vorn, zappeln, greifen nacheinander, schlagen auf sich ein, würgen sich und lieben sich. Eindeutig sexuelle Anspielungen nimmt man wie nebenbei zur Kenntnis, ohne überrascht oder proviziert zu sein.
Wenn die Individuen sich getrennt haben, suchen sie schnell wieder die Nähe. Sie synchronisieren sich in der Gruppe und verschmelzen wie zu einem neuen phantastischen Wesen. Korallen sind so schöne, gefährdete Tiere, mit einem starken Stamm und in der Strömung schwingenden feingliedrigen Extremitäten.
Diese wenigen Bilder des Kaleidoskops bringen für Momente einen Hauch von Erleichterung, den uns der international mehrfach preisgekrönte Choreograph Pablo Girolami in diesem mahnend gemeinten Werk dann doch gestattet.
Das Ende der Aufführung
Es gibt einen – wie während des Spiels spontan abgebrochenen – zweiten Teil der Aufführung. Danach verkriechen sich die verbliebenen Individuen im Arbeitstisch. Damit endet das Nacheinander von Unerfreulichkeiten. Man kann nicht einmal zusammenfassen, dass es mit mit dem endlosen Pfeifton bei langsam hochgefahrenem Saallicht aus“klänge“.
Zu Konzeption und Handlung
Künstliche Selektion? Ethisch? „Selective Breeding“ ist eine Anklage gegen diese egoistische Manipulation. Ein Wissenschaftler, ein Metzger, zwei Küken und ein Lachs kreieren eine gigantische Parodie, die auf die Anschuldigung dieser heuchlerischen Praxis hinweisen.
(Aus dem Prgrammheft)
Ein paar Zuschauer hatten den Saal da schon verlassen. Der Rest ist nicht Schweigen, sondern Diskussion – im Saal, vor dem Saal, auf der Dreilindenstraße. Alles vom Festival gewollt, alles gut. Vielleicht haben wir nichts verstanden? Vielleicht hat uns die Performance nichts erzählt.
Annotation
„Selective Breeding“. Ballett von Pablo Girolami, Live DJ-Set von Vermouth Gassosa, mit IVONA. Gastspiel im Rahmen des Festivals “Leipzig tanzt!” in der Musikalischen Komödie Leipzig. Choreographie: Pablo Girolami, Bühne: Gisella Butera, Kostüme: Christian Boaro, Live DJ-Set: Vermouth Gassosa, Licht: Angelo Tauro
Besetzung
Company Ivona
Credits
Text: Moritz Jähnig, freier Theaterkritiker, Leipzig
Foto: © Betraix Mexi-Molnar; Autor