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Gera: Grausam und trostspendend

Gera: Grausam und trostspendend

Ballettabend „La Valse“ und „Le Sacre du printemps“ hinterläßt tiefen Eindruck

Bekanntermaßen vollziehen sich beim Thüringer Staatsballett zum Saisonende wichtige Wechsel in der künstlerischen Ausrichtung. Die Auswahl der im jüngsten Ballettabend getanzten Stücke symbolisiert wohl bereits jetzt absichtsvoll diesen Wandel. Und macht damit in effectu Abschied leichter.

            Von Moritz Jähnig

Szene „Le Sacre du Printemps”.

In einer bedeutenden internationalen Gastinszenierung wird jetzt wieder „Le Sacre du Printemps“ am Theater in Gera gezeigt. Dieses Ballett steht für den Umbruch im Tanz wie kein zweites. Seine Handlung erzählt von Frühling, Aufbruch, gesellschaftlichem Fortschritt ebenso wie von Grausamkeit, die für notwendig erachtet wird. Igor Strawinskys dafür geschaffene Musik ist einmalig, fordernd, pochend, bis in die Leistengegend körperlich spürbar.

Wenn GMD Ruben Gazarian sie mit dem Philharmonische Orchester erklingen lässt, packt er seine Zuhörer mit dem ersten Ton. „Die Anbetung der Erde“ ist keine unschuldige, volkstümliche Melodie. Man hört, dass mit dieser Fröhlichkeit etwas nicht stimmt. Gazarian weist schon im scheinbar harmlosen ersten Teil auf den Abgrund in dieser Komposition. Tempo und Druck signalisieren das tödliche Geschehen, das sich unerbittlich in der frühlingshaft unschuldigen Atmosphäre vollziehen wird.

Bewusst schmuckloser Bühnenraum

Der Bühnenraum für das getanzte archaische Drama ist ein schmuckloser Kasten. Nix mit Frühling, wärmenden Sonnenstrahlen und Natur, was zu „Bildern aus dem heidnischen Russland“ passen könnte.

Lichteffekte und Schattenprojektionen sind die einzigen Schaustücke, die Marco Japelj und Leo Kulas zur Ausstattung zulassen. Das Auge schaut nur auf Bewegung. Die 12 Tänzerinnen und Tänzer sind in ihren hautfarbenen, engen Trikots nackt.  Es wird in den Gruppen sehr präzise getanzt.

Wasser wird zum Tanzpartner

Für „Das Opfer“ öffnet der Himmel dann über dem Ensemble seine Schleusen und effektvoll ergießt sich was in wahren Strömen von oben auf die Bühne. Die Choreografie spielt mit diesem uns Menschen so nahe wie kein anderes seiendem Element. Das darf man sich nicht als kindlich fröhliches Planschen vorstellen. Vielmehr greifen die Tänzer in der immer ekstatischer werden Rhythmik das Wasser wie einen Partner auf und beziehen es in den Tanz ein. Alle Bewegung wird durch Wasser verlängert.

Wasser wird von oben auf die Bühne beracht

Schon ahnt das zum Opfer ausgesuchte, besser: ausgestoßene Mädchen sein Schicksal. Es versucht sich wieder in die Mehrheit der anderen einzubringen. Grandios tanzt Yeojin Kim in dieser verhängnisvoll tragischen Partie ihre Verzweiflung, mit natürlicher Grazie und Ausdrucksstärke. Schwanengleich surfen die Damen elegant von den Herren geführt auf dem Wasser. Dann platzt jäh die Scheinidylle und der Opfermord wird vollzogen. Die choreografierten Bilder für Übergriffigkeit und Mord sind klar, ergreifen, ohne sich aufzudrängen.

Bei ihre legendären Uraufführung 1913 geriet „Le Sacre“ zum Skandal. Das – im Übrigen exzellent getextete – Programmheft des Theaters weiß die Geschichten zu beiden Stücken anekdotisch und analytisch klug darzustellen.

Zu danken hat das Publikum in Gera dieses Ballett dem slowenischen Choreografen Edward Clug, der es 2013 mit den Operabalet Maribor herausbrachte und nach großem internationalem Erfolg auf das Staatsballett übertrug. Großer Beifall für den Choreografen, das Staatsballett und in dem Fall auch die Technik des Hauses.

Ravel ergänzt mit Sibelius

Die Beschreibung des erlebten Abends hätte gleichberechtigt mit der Choreografie von Stephan Thoss beginnen können. „La Valse“ zu den Musikstücken „Valse triste“ von Jan Sibelius sowie „Pavane pur une infante défunte“ und „La Valse“ von Maurice Ravel steht in engem musikdramaturgischem und historischem Zusammenhang zu Strawinsky. Stephan Toss, der nach den Stationen Kiel und Hannover jetzt die Mannheimer Tanzcompany leitet, schuf Choreografie und Ausstattung für die Uraufführung durch das Thüringer Staatsballett. Auch die dominierende Walzermelodik ist abgründig.

Szene aus „La Valse“

Extremsituation löst Rückschau aus

Der in Leipzig geborene Choreograf, der 1989 seine erste selbstständige Kreation in Gera auf die Bühne brachte, gesteht den Menschen seines Stückes und uns eine Spur von Hoffnung zu. Er erzählt in einer modernen, an das klassische angelehnten Bewegungssprache, von einem älteren Paar, das mit dem Auto im winterlichen Wald liegen bleibt. In der Extremsituation erinnern sich beide ihrer Jugend. Der Mann (Fernando Calatayud Panach) stirbt. Die Frau (Melissa Escalona Gutierrz) kann, von guten Kräften der Natur aufgefangen, zu neuem glücksbetontem Anfang finden. Die kurze Geschichte wird in winterlichen Landschaften unter dem Nordlicht erzählt. Schnee und Eis stehen für die andere Seite des Wassergedankens aus „Sacre“.

Große Aufgaben für Eleven des Staatsballetts

Das Corps de ballet, verstärkt durch die Eleven des Staatsballetts, bewegen sich auf sehr hohem Niveau und belegt seine professionelle Flexibilität neuen Tanz- und Bewegungsansprüchen gegenüber.

Annotation

“La Valse/ Le Sacre du Printemps”. Zweiteiliger Ballettabend. „Valse triste“, Pavane pour une infante défunte, La Valse. Ballett von Stephan Thoss. Musik von Jean Sibelius und Maurice Ravel. “Le Sacre du Printemps” Ballett von Edward Clug, Musik von Igor Strawinsky. Musikalische Leitung GMD Ruben Gazarian, Dramaturgie Liubov Morozova, Norbert Skowronek, Choreografie (La Valse) Stephan Thoss, Bühne, Kostüm (La Valse) Stephan Thoss, Choreografie (Le Sacre du Printemps) Edward Clug, Bühne (Le Sacre du Printemps) Marko Japelj, Kostüm (Le Sacre du Printemps) Leo Kulas

Besetzung

Thüringer Staatsballett, Eleven des Thüringer Staatsballetts

“La Valse”

älteres Paar (Orange): Melissa Escalona Gutierrez, Fernando Calatayud Panach                       
Junges Paar: Stefania Mancini, Giovanni Cancemi                                   
Rotes Paar: Yuri Hamano, Pablo Bueno Tierz

Grünes Paar: Emilie Menezes de Siqueira, Hudson Oliveira               
Türkises Paar: Carmen Molina Olmos, Milton Fernandes Oliveira Junior                                                                                       
6 Paare in Schwarz
1.Paar: Yuri Hamano, Pablo Bueno Tierz
2.Paar: Carmen Molina Olmos, Milton Fernandes Oliveira Junior                                                                                          
3.Paar: Emilie Menezes de Siqueira, Hudson Oliveira
4.Paar: Kim Yeojin, Zeyuan Han
5.Paar: Jéssyca Rett, Emanuel Amuchastegui
6.Paar: Mana Matsumura, Anderson Patrick Nascimento de Lima

“Le sacre du printemps”

Opfer: Yeojin Kim / Mana Matsumura, Damen: Stefania Mancini, Yuri Hamano, Sara Amoroso, Emilie Siqueira, Yeojin Kim, Maite Nunes, Herren: Anderson de Lima, Emanuel Amuchastegui,  Carlos Boeira, Jerry Wan, Fernando Calatayud, Zeyuan Han.

Philharmonisches Orchester Altenburg Gera

Premiere und besuchte Vorstellung 3.5.2024; veröffentlicht 4.5.2024

Credits

Text: Moritz Jähnig, freier Theaterkritiker, Leipzig, Herausgeber

Foto: © Ronny Ristok

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