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Leipzig: Любовь моя

Leipzig: Любовь моя

Die MuKo präsentiert „Dr. Schiwago“ – Liebe im Kriege und die Revolution

Glanzvolle Wiederaufnahme und bereits 20. Vorstellung eines Klassikers des neueren Musiktheaters, der auf der Grundlage eines Romans von Boris Pasternack viel über Geschichte und Kultur vermittelt. Ein großes Vergnügen.

Von Henner Kotte

Das Ensemble der Musikalischen Komödie Leipzig in „Doktor Schiwago“

Russische Kunst entzieht sich mitteleuropäisch und amerikanisch schnellen Interpretationen. Dostojewskis Werke lassen sich weder filmisch noch theatral in anderthalb Stunden pressen. Tschechows Moskwa meint nicht den Fluss oder die Millionenmetropole, sondern das Paradies auf Erden. Schostakowitschs Noten können kriegerisch und sehr politisch klingen. Boris Pasternaks Vor- und Nachrevolutionsepos „Doktor Schiwago“ interpretierte das Nobelpreiskomitee als profunde Staatskritik, Hollywood sah’s als Schmonzette: Schöner Dichter zwischen zwei Frauen und zwei Kriegsparteien. Maurice Jarre komponierte unvergessene Filmmusik zu der Omar Sharif drei und eine halbe Stunde zwischen Julie Christie und Geraldine Chaplin pendelt. In dem Wissen fasste Lucy Simon den Entschluss, aus dem Romanwerk für drei und eine halbe Stunde „Dr. Zhivago. A new Musical“ zu machen.

Michael Weller schrieb dazu das Buch, Michael Korie und Amy Powers verfassten die Songtexte. Herausgekommen ist eine etwas banale Arztgeschichte unter roter Fahne – was aber nicht heißt, dass man sich nicht seit der Premiere bei der deutschen Erstaufführung ausgesprochen gut unterhalten fühlt: Der Saal ist voll, man schluchzt und seufzt, letztendlich gibt es standing Ovations fürs Ensemble. Zu Recht.

Szene aus „Dokotor Schiwago“

Juri Schiwago entstammt einer vorrevolutionären Elite und ist als Waisenkind schon in Kindertagen der Antonia Gromeko versprochen. Sie heiraten. Juri dichtet und wird Arzt. Aber Krieg und Revolution zerstören mit brutaler Gewalt und tausendfachen Tod das Idyll. Der Doktor muss zunächst für Russland, dann für Weißgardisten, später für die Bolschewiken operieren, amputieren, Leben retten und leiden. Auf einer intimen Feier wollte Larissa Guichard einen Vergewaltiger aus alten Herrschaftskreisen erschießen. Schiwago traute seinen Augen nicht und war verliebt. Jene Lara aber ist liiert mit einem der oberroten Schurken. Zwischen wechselnden Fronten und im eiskalten Sibirien können sich Lara und der Doktor lieben und trennen und lieben. Am Ende stirbt der Juri an gebrochenem Herzen herzergreifend.

Kostüme verweisen auf „Stiller Don“

Nun stirbt jener „Doktor Schiwago“ in Leipzigs Musikalischer Komödie. Regisseur Cusch Jung ist ein Meister der Ensemble-Inszenierung. Den Abend kein Blick zur Bühne, der nicht beeindruckt. Filmreif bewegen sich die Massen, die Solisten füllen den Bühnenraum, Wie im Stadion der Roten Bullen schwenkt man die Fahnen und erinnert an „Die Elenden“ in den „Tagen der Commune“. Das Bühnenbild von Karin Fritz erlaubt ein strahlendes Lichtkonzept und Aufmärsche á la Leni Riefenstahl. Mit den Kostümen verweist Karin Fritz auf „Stillen Don“ und Alexej Tolstois „Leidensweg“. Christoph-Johannes Eichhorn lässt das Orchester klingen, dem die Komponistin jedoch keinen Ohrwurm schenkte. So unterlegt die geplagte Krankenschwester Jarres Filmevergreen den Text „Любовь моя“ und schmückt sich mit fremden Noten, „Жди меня“ schrieb Konstantin Simonow zur Liebe in Zeiten des Krieges. Der Chor brilliert unter Mathias Drechsler, und Elisabeth Kühnes Dramaturgie lasst sich sehen. Daumen hoch! Dieser „Doktor Schiwago“ ist ein Gesamtkunstwerk.

An der emotionalen Wirkung des Werks haben die Solisten sondergroßen Anteil: Die Titelpartie gibt Yngve Gasoy-Romdal mit dem Charme von Sigmar Solbach als „Dr. Stefan Frank, dem Arzt, dem die Frauen vertrauen“. Die verliebten Damen Olivia Delauré und Nora Lentner beeindrucken solistisch wie im kleinen barcarolischen Duett. Björn Christian Kuhn tönt die offene Gewalt, Patrick Imhof die versteckte. Im Quintett sentimentalisiert man über die Liebe: „Es gibt gar nichts, was du tun kannst, wenn sie dich wählt.“ Sabine Töpfer als tatkräftige Krankenschwester und irre Mutter erdet die allzu großen Gefühle. Auch die Nebenrollen bestens besetzt: Michael Raschle als gestriger Vater, Stephen Budd als sterbender Held, die wie die Kinderstimmen Herzen rühren. Das ist die Kunst, die wir lieben und die uns lieben lässt.

Hanna Mall und Lisa Habermann in „Doktor Schiwago“, Aufnahme von der Premiere

Unter der Hand vermittelt diese Inszenierung mehr Kultur und Geschichte, als manch hochgelobtes Werk. Natürlich können die Überintellektuellen die Trivialität bemängeln, aber wir haben‘s halt gern, wenn uns die Gefühle übergroß selbst im Krieg präsentiert werden – Siehe Courths-Mahlers „Kriegsbraut“, Rufins „Das rote Halsband“ oder Simmels „Mich wunder, dass ich so fröhlich bin“. Und wie meinte einst die Queen des deutschen Kitsches: „Es gibt so viel Literatur und so wenig Leute, die fürs Volk schreiben, gäbe es mehr, hätte ich selbst nicht den großen Erfolg.“

Annotation

„Doktor Schiwago“ von Lucy Simon, Michael Weller,  Michael Korie,  Amy Powers. Oper Leipzig, Musikalische Komödie. Musikalische Leitung Christoph-Johannes Eichhorn, Inszenierung Cusch Jung, Choreografie Mirko Mahr, Bühne, Kostüme Karin Fritz, Choreinstudierung Mathias Drechsler, Dramaturgie Elisabeth Kühne, Ballett Ballett der Musikalischen Komödie, Chor und Orchester der Musikalischen Komödie, Orchester der Musikalischen Komödie

Besetzung

Larissa Guichard (Lara) Olivia Delauré, Antonina Gromeko (Tonia) Nora Lentner, Anna Gromeko / Olga Sabine Töpfer, Kubaricha Konstanze Haupt, Jurij Schiwago Yngve Gasoy-Romdal, Viktor Komarovskij Patrick Imhof, Pavel Antipov (Pascha) / Strelnikow Björn Christian Kuhn, Alexander Gromeko Michael Raschle,Markel / Gints Ivo Kovrigar, Janko Stephen Budd, Liberius Georg Führer

Premiere 27.1.2018; Wiederaufnahme und besuchte Vorstellung 28.4.2024, veröffentlicht 29.4.2024

Credits

Text: Henner Kotte, freier Autor und Theaterkritiker, Leipzig

Fotos: Kirsten Nijhof

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