Lang erwartete Wiederaufnahme der „Elektra“ inszeniert von Peter Konwitschny
Triumpf für Ricarda Merbeth und das Gewandhausorchester unter Christoph Gedschold
“Elektra” ist kräftezehrend – für Sänger, Orchester und nicht zuletzt für die Zuschauer. Als zur Wiederaufnahme der letzte schrille Richard-Strauss-Akkord im Saal verklingt, folgen exakt 12 sehr lange Sekunden totaler Ruhe. Dann bricht orkanartiger Jubel auf.
Von Moritz Jähnig
Die Vorgeschichte der stark konzentrierten Opernhandlung wird in Peter Konwitschnys auch nach 19 Jahren noch exemplarischen Inszenierung vor Beginn der Musik auf offener Bühne vor einer verspiegelten Wand gezeigt: Papa Agamemnon sitzt in der Badewanne und albert mit seinen drei Kindern rum. Man spritzt sich nass, es wird um die Wette mit Wasserpistolen geschossen, Papas Liebling, die kleine Elektra gewinnt. Nicht sein Sohn Orest.
Dann erscheinen im Badzimmer wie beiläufig Mutter Klytämnestras mit dem lieben Onkel Aegisth. Die Stimmung kippt. Vor den Augen der kleinen Elektra wird der vergötterte Vater von Mutters Geliebtem mit dem Beil erschlagen. Die anderen Kinder konnten sich rechtzeitig verdrücken. Elektra sitzt mit in der Badewanne und wird dieses Trauma nie mehr los.
Fortan weiht sie ihr Leben der Rache an der Handlangerin und Mutter sowie dem Totenkult um den Vater, der symbolisch in der Badewanne liegend bei ihr bleibt. Die Rache soll stellvertretend der geflohene Bruder Orest nehmen. Dafür bewahrt Elektra auch die Axt auf, mit der Agamemnon getötet wurde.
Konzept offen für viele Denkansätze
Hugo von Hofmannsthal verarbeitet in seinem 1909 in Wien uraufgeführtem Stück die zur Entstehungszeit in Schwang stehende Psychoanalyse. C. G. Jung spricht ja im Zusammenhang mit extremen Vater-Tochter-Bindungen vom Elektra-Komplex. Der Dichter illustriert, wie der Rachedanke und die Gewalt im mythologischen Geschlecht der Atriden von Generation weitergereicht wurden.
Das Regiekonzept für die Strauss-Oper hebt mit dem drastischen Blutbad im Badezimmer auf den ersten Blick voll auf diesem tiefenpsychologischen Ansatz ab. Wir alle haben die Waffen, die wir heute schwingen, von der vorherigen Generation in der eigenen Familie weitergereicht bekommen. Unsere Mord- und Kriegslust ist wie bei den Atriden ererbt.
Konwitschny zeigt aber auch über viele szenische Details eine korrupte Gesellschaft, der alle Werte, die sie im Munde führt, abhandengekommen sind. Sein mythologisches Mykene ist uns nicht fern. Eine kühle Lounge mit weißer Sitzgruppe im postmodernen Chic, viel Alkohol, peinliche Personenkontrollen – das kennen wir. In Hintergrund der Longe droht, wie das Menetekel an König Belsazars Wand, eine elektronische Uhr, die den Countdown zum Ende runterzählt. Die Spuren vom letzten Blutbad werden von Mägden beseitigt, das nächste Unheil steht vor der Tür. Security ist allgegenwärtig. Wer sich der restriktiven Ordnung nicht anpasst, wird nicht geduldet.
Zur Schlüsselszene gerät die Begegnung zwischen Elektra und dem totgeglaubten Bruder. Orest ist kein strahlender Held, sondern entspricht, wie ihn York Felix Speer genial verkörpert, dem Medienklischee vom Zwangsneurotiker, der auf die Rolle des emotionslosen Muttermörders hin erzogen wurde. Orest ist Instrument seines autoritären Pflegers. Er erschießt auf dessen Geheiß Aegisth, Schwester Elektra übernimmt mit dem Beil die Nachsorge.
Massaker zum Weltuntergang
Damit ist die Rache im psychoanalytischen Sinne erfüllt. Der Countdown stoppt und ein Feuerwerk erstrahlt über der düsteren Szene. Was nach der Stunde null mit der erfüllten Rache beginnt, ist kein bejubelter Frieden. Das totale, besser: das globale Gemetzel hebt jetzt erst richtig an. Maschinengewehrsalven tönen in die höchste Verklärung der Musik. Die Niederwerfung der Tyrannei artet in ein verheerendes Massaker aus. Der Zeitmesser an der Wand spielt verrückt. Es herrscht Endzeit. Der Zwangsneurotiker regiert.
Um es mythologisch zu formulieren: Diese für die Wiedereröffnung des Opernhauses in Kopenhagen 2005 geschaffene Inszenierung ist eine Kassandra-Ruf. Sie steht außer seit 2011 in Leipzig auch auf dem Spielplan des Opernhauses Stuttgart. Da stört es auch nicht weiter. Die differenzierte, dichte Interpretation wird noch eine ganze Weile ihre Gültigkeit behaupten. Handwerklich ist die Leipziger Neueinstudierung ohnehin über jeden Zweifel erhaben. Überzeugen Sie sich.
Unbedingt hingehen
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1. Mai 2024, 17.00 Uhr
5. Mai 2024, 17.00 Uhr
Als der Chefregisseur ging, war nicht wenige erleichtert. Aus heutiger Perspektive gilt für die Konwitschny-Ära: „Es war nicht alles schlecht“ und ist noch heute gut. Bezüglich der heraufbeschworenen Lortzing-Begeisterung in Leipzig sei angemerkt: nie haben wir ein stärkeres politisches Entsetzen nach einer Premiere gespürt, wie 1986 nach Konwitschnys hellsichtig zu nennendem „Waffenschmied“. Sechs Aufführungen erlebte der immerhin dann doch.
Musikalisch ein Vergnügen
Das Gewandhausorchester, dem 2011 an dieser Stelle noch ein Fremdeln mit Richard Strauss nachgerufen werden musste, hat seine bekannt hohe Sensibilität auch für dessen Opern unter Beweis gestellt – und tat es unter Leitung von Christoph Gedschold am erlebten Abend. Gedschold steht für Transparenz selbst in den alptraumhaften Passagen, sollte vielleicht in der Lautstärke mäßigender eingreifen, sprich sängerfreundlich bleiben. Die eingangs erwähnte Ergriffenheit danken wir neben den alles erschlagen Bildern auf der Bühne, dem anpackenden Spiel des Gewandhausorchesters.
Gesungen wird die Wiederaufnahme der „Elektra“ 2024 von hervorragenden Solisten. Aus dem Hause ist wieder zuverlässig Karin Lovelius als Klytämnestra dabei. Der großartige Bass York Felix Speer, auf dessen Leipziger Baron von Lerchenau im Strauss’schen „Rosenkavalier“ sich viele bereits freuen, singt natürlich vortrefflich und bedient körperlich das Konzept auf interessante Weise im Spiel. Die US-amerikanische Sängerin Jennifer Holoway, die Leipziger Chrysosthemis, ist mit ihrem wunderbar jugendlichen, lyrisch-dramatischen Sopran auf vielerorts auf den Opernbühnen im deutschen Fach ein gefeierter Gast.
In der Titelrolle brilliert mit einem warmen, menschlichen Grundtimbre, aus dem die irre ekstatischen Spitzentöne erschreckend scharf und klar hervorschnellen Ricarda Merbeth. Rückblickend darf man die sichere Hand hervorheben, die Leipzig bei der Besetzung dieser extrem anspruchsvollen Partie bewiesen hat. Zu hören und erleben waren 2011 Janice Baird aus New York und 2018 die Engländerin Catherine Foster.
Annotation
“Elektra”. Tragödie in einem Aufzug von Richard Strauss, Text von Hugo von Hofmannsthal. Oper Leipzig. Musikalische Leitung: Christoph Gedschold, Inszenierung: Peter Konwitschny, Bühne, Kostüme: Hans-Joachim Schlieker, Licht: Manfred Voss, Chor und Komparserie der Oper Leipzig, Gewandhausorchester Leipzig
Besetzung
Klytämnestra: Karin Lovelius, Elektra: Ricarda Merbeth, Chrysothemis: Jennifer Holloway, Vertraute: Merit Nath-Göbl, Schleppträgerin: Lorraine Pudelko, Aufseherin: Kathrin Göring, 1. Magd Yajie Zhang, 2. Magd Nora Steuerwald, 3.Magd Marie-Luise Dreßen / Sandra Maxheimer, 4.Magd Olena Tokar, 5.Magd Samantha Gaul, Aegisth: Dan Karlström, Orest: Yorck Felix Speer, Pfleger des Orest: Peter Dolinšek, Junger Diener: Sven Hjörleifsson, Alter Diener: Roland Schubert, Agamemnon: Frank Schilcher
Premiere 16.4.2011; Wiederaufnahme und besuchte Vorstellung 27.4.2024; veröffentlicht 30.4.2024
Credits:
Text: Moritz Jähnig, freier Theaterkritiker und Herausgeber, Leipzig
Foto: © Tom Schulze/Oper Leipzig