Chefchoreograf Jörg Mannes schuf neues emotionsstarkes Handlungsballett
Reverenz an das Theater Magdeburg und sein Ballettensemble. Die Repertoirevorstellung des im Februar uraufgeführten Balletts „Borgia“ von Jörg Mannes auf einer von der Magdeburger Philharmonie klangstark ausgebreiteten piste de dance avancierte beeindruckend zum Beitrag für den bedauerlicherweise in der Region wenig beachteten Welttag des Tanzes am 29. April.
Von Moritz Jähnig
Der Renaissance-Mensch ist ein fester Topos in der geistesgeschichtlichen Landschaft, der wenig bis gar nichts mit dem Typ Leonardo da Vinci als humanistisch gesinnten Universalgelehrten zu tun hat. Der Renaissance-Mensch kennt nur sich und sein Wohl und setzt es rücksichtslos durch. Niccolò Machiavelli als Theoretiker des ganzen fällt einem ein. Oder von der anderen Seite her natürlich auch der eifernde Dominikaner Girolamo Savonarola. Vor allen anderen aber steht der Spanier Rodrigo Borgia, der mörderische Papst Alexander VI., Rodrigo Borgia (1430 bis 1503) mit seiner Familie.
Ungewöhnliche Stoffwahl
Das Leben dieser Ausnahmepersönlichkeit, die unser Modern-Sprech als „toxisch“ etikettiert – woran man merkt, wie kurz solche Kampfbegriffe greifen – erzählt der Choreograf Mannes in seinem neuen Ballett in Magdeburg nach.
Er sei auf Rodrigo auf dem Umweg über seine historische Beschäftigung mit weltbewegenden Geliebten gestoßen. Gemeint ist hier Guilia Farnese, einer der Geliebten des Papstes. Sie wurde dem Heiligen Vater von ihrem ehrgeizigen Bruder Alessandro zugeführt, der damit eigene Ambitionen auf das höchste Kirchenamt verband.
Die Leidenschaft für die schöne Frau ließ den Heiligen Vater bis in den Tod nicht los. Mit ihm endet das Stück. Sein Rivale Alessandro, der alle erlebte Verachtung erträgt (ausdrucksvoll getanzt von Stefano Sacco) wird sein Nachfolger. Die ab sofort nur noch Ex-Geliebte Giulia (grazil und voll unnahbarer Verlockung getanzt von Chloe Jones) hat ihre Pflicht erfüllt und achtlos beiseitegeschoben.
Seinen Beginn nimmt die unsentimentale Tragödie mit der Papstwahl. Das Konklave findet in einem perspektivisch raffiniert gestalteten Gewölbe statt (Bühne Thomas Ruppert). Zwei im Raum darunter bewegliche Treppenpodeste und der Thron-Tisch, vor dem traurigen Ende als Liebesnetz erfolglos genutzt, genügen. Sonst dient Raum pur dem tänzerischen Ausdruck.
Differenziert in Kleidung und Bewegungssprache
Die rot gekleideten Kardinäle gestikulieren wild und halten ein jeder die Hand offen, in die der Borgia Geschenke legt. Wer sich von ihm nicht korrumpieren lässt, wird gemeuchelt. Schließlich steigt weißer Rauch auf und der Borgia ist gewählt. Ohne Zögern ruft er seine Familie zusammen, drei Söhne, die willfährige Tochter Lucrezia und Vanozza, seine Dauer-Lebensabschnittsgefährtin. Die Borgias tragen schwarze Harnische. Auch die Florentiner um Savonarola sind eine düstere Kampfgruppe und heben sich von der Elite, dem Klerus einschließlich Rodrigo, ab. Die Herren der Kirche tragen lange, weit schwingende Plissee-Hosen. Sie machen große Bewegungen noch größer (Kostümgestaltung Ros Ana Chanza).
Ein sich in festen Gesten ausdrückender Machtwille schweißt den Clan um den Heiligen Stuhl zusammen, bereit, diesen nie wieder hergeben zu wollen. Wie ein Mann stehen die Papstsöhne Juan (Federico Zeno Bassanese), Jofre (Jesus Marrero Diasz) und Cesare (besonders im 2. Akt sprungstark auftrumpfend Joshua Hunt). Daneben die Vanozza (Aurora Conte), die „Lebensgefährtin“ des Familienoberhaupts und die viel verheiratete Tochter Lucrezia (Francesca Raule, bei allem doch auch wie von stillem Kummer umweht).
Als großes Bild in Erinnerung bleibt der Paartanz von Papst und Bettelmönch auf den Höhen des Podest. Wie ein Paar im Tangotanz drücken sie dabei die zwei Seiten der Leidenschaft aus, an der sie verglühen müssen. Giacomo Quatraccioni tanzt männlich elegant und im verzweifelten pas-de deux 2. Akt berührend und ausdrucksvoll. Ein überzeugender gesellschaftlichen Mittelpunkt, an dem sich alle ausrichten und dessen Fall dann umso tiefer erscheint. Joel Dettori als Sanonarola ist ein nimmermüder destruktiver Eiferer.
Der Papstthron ist ein großer Lattensessel, der schnell zur Festtafel umgeklappt wird. An ihr sitzen die Borgia und vergiften alle Konkurrenten, deren Leichen sich, welch schönes Bild, unter der Festtafel stapeln.
Viele spielerische Szenen, wie das Darbieten der Giftbecher, hat Mannes ausgesucht gestaltet und hebt damit wirkungsvoll die Individualität seiner Tänzerinnen- und Tänzer hervor. Großartig auch die Gruppenszenen, in denen der Klerus dem unterlegenen Alessandro seine Verachtung ausdrückt.
Liebende Intimität oder humortragendes Genre, phantasievoll erzählende pas de deux zweifach oder dreifach wechseln mit furiosen Gruppenbildern und Rasanz, vorallem im 2. Akt. Benutzt wird das klassisch, post-klassische Bewegungsvokabular.
Die deutliche, durch Bewegungsspreche erreichte soziale Charakterisierung der Figuren und die wechselnde Vielfalt der Bilder kennzeichnen die Choreografiearbeit.
Eine Herausforderung sich die lateinisch gesprochen Verstehendeshilfen zwischen den Bildern. Sie schaffen bestenfalls Atmosphäre. Die Figuren in „Borgia“, zum Beispiel Savonarola, hat vielleicht nicht jeder abrufbereit. Obwohl es in den evangelischen Kirchen alljährlich einen Savonarola-Tag gibt. Das nur angemerkt.
Die Musikauswahl für „Borgia“ ist gelungen: Hendryk Gorecki und Philip Glas stehen dafür. Getragen wird der Tanzabend maßgeblich über die von der Magdeburger Philharmonie unter Stabführung Svetoslav Borisov sorgfältig wie Konzertvortrag und einfühlend aufgespielte „Hornissen“-Suite von Dimitri Schostakowitsch.
Annotation
„Borgia“. Ballett von Jörg Mannes, Musik von Henryk Górecki, Dmitri Schostakowitsch und Philip Glass. Uraufführung. Theater Magdeburg. Musikalische Leitung: Svetoslav Borisov, Choreografie: Jörg Mannes, Bühne: Thomas Rupert, Kostüm: Rosa Ana Chanzá, Dramaturgie: Ulrike Schröder
Besetzung
Rodrigo Borgia: Marco Marangio/ Giacomo Quatraccioni, Vanozza de’ Cattanei, seine Lebensgefährtin: Anastasiya Kuzina/ Aurora Conte,
Lucrezia Borgia, beider Tochter: Louise Curien/ Francesca Raule, Cesare Borgia, beider Sohn: Joshua Hunt/ Rodrigo Aryam, Juan Borgia, beider Sohn: Giacomo Quatraccioni/ Joshua Hunt, Jofré Borgia, beider Sohn: Ghabriel Gomes/ Jesús Marrero Díaz, Giulia Farnese, Rodrigos Geliebte: Chiara Amato/ Chloe Jones, Alessandro Farnese, ihr Bruder: Gennaro Chianese/ Stefano Sacco, Orsino Orsini, Giulias Ehemann, Alfonso d’Este und weitere Ehemänner Lucrezias:
Stefano Sacco/ Ghabriel Gomes, Sancia, Jofrés Frau: Giulia Marenco/ Zarah Frola, Burckard von Straßburg: Federico Zeno Bassanese/ Gennaro Chianese, Savonarola, Bettelmönch: Fiammetta Gotta/ Joel Dettori, Stimme Burckards von Straßburg: Robert Lang-Vogel. Ballett Theater Magdeburg. Magdeburgische Philharmonie
Premiere 17.2.2024; besuchte Vorstellung 26.4.2024; veröffentlicht 27.4.2024
Credits
Text: Moritz Jähnig, freier Theatertkritiker und Herausgeber, Leipzig
Fotos: © Bettina Stöss