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euro-scene: Worte werden Ansichtssachen

euro-scene: Worte werden Ansichtssachen

KOULOUNISATIONGastspiel von Salim Djaferi (Belgien)

Mit Gastspielen wie KOULOUNISATION belegt die euro-scene, dass sie kein Festival des beaut ballet ist, bzw. keinesfalls ausschließlich. Die sechs Tage im November ermöglichen der theaterhungrigen Stadt Berührung mit Themen und Diskursen, die frei bundesdeutscher Standardprägung auf europäischen Bühnen und darüber hinaus geführt werden.

Von Moritz Jähnig

Der Theatermann Salim Djaferi ist ein algerisch stämmiger Franzose, der in Belgien lebt und arbeitet. Wobei es genau solche Zuschreibungen sind, um die es ihm in seinem Dokumentartheater geht. Stimmen sie so, wie sie gesagt sind? Woran kann man festmachen, wer eine oder einer nun ist? An der Sprache? Kommt immer darauf an, von welcher Warte aus man es betrachtet. So wie in den kleinen Interventionen mit einer Zuschauerin, die in dem scheinbaren Solostück erklären soll, was sie sieht und was nicht. Ist das Wesen der Kolonisation Ansichtssache?

In seinem gefeierten ersten Theaterstück nimmt Salim Djaferi mit viel Humor und beißender Ironie die Sprache der Kolonialisierung auseinander. Für eine Recherche reiste der Sohn von Eltern mit algerischem Migrationshintergrund 2018 nach Algier, um sich vor Ort über die Kolonialisierung Algeriens und den blutigen Übergang in die Unabhängigkeit zu informieren. Als er in einer Buchhandlung vergeblich nach der Abteilung „Algerienkrieg“ suchte, erklärte ihm die Verkäuferin freundlich, dass er in der Sektion „Revolution“ nachsehen müsse. Er begann die Macht der Wörter, ihre Herkunft, Wirkung und Bedeutung zu untersuchen und begriff, dass es eine Frage der Perspektive ist, wie Geschichte wahrgenommen und erzählt wird.

Auszug Festival-Programm

Djaferi steht allein in einem fast leeren hellen Bühnenraum und doziert. Seine Requisiten sind große Styropor-Platten, eine verknäulte Kunststoffleine, eine unmöglich große Wasserflasche, eine Pulle Rotwein und zwei Schwämme. Im Laufe des Vortrags baut der Darsteller aus den Platten Raumflächen, um soziale Abhängigkeiten zu klären, ein Arbeitspult, das er dann mit dem Kopf zertrümmert.

Er fuchtelt mit einem dolchähnlichen Küchenmesser herum und spannt die Leine großräumig auf, an die er die Ausweispapiere seines algerischen Großvaters, seiner Mutter und andere Familiendokumente hängt. Er redet pausenlos, erzählt von sich und von damals. Obwohl alles in französischer Sprache (die Übersetzung wird an die Bühnenrückwand projiziert), versteht das Publikum ganz genau, was er sagt und meint!

Denn der Performer spricht neben der verbalen Weise auf einer tieferen Schicht über Körperaktion und seine Requisiten zum Publikum. Kommunikation mittels einer jedem verständlichen Bildsprache. Der geniale Höhepunkt ist erreicht, wenn die Haupt- und Zentralfigur des Stückes selbst, die 60 Minuten lang erklärt hat, Kolonisation bedeutet im Endeffekt Auslöschung, plötzlich in einem uralten Zaubertrick aus der Jahrmarktsbude einfach verschwindet.

KOULOUNISATION ist so klug, so ironisch („da landeten die sexy aussehenden Amerikaner in der Normandie und brachten uns die Freiheit…“) und für Leipzigs Beschäftigung mit der eigenen kolonialen Vergangenheit so eminent wichtig. An die medial gern aufgegriffenen großen Hausnummern Deutsch-Südwest, Benin-Bronzen, Rußland-Ukraine, Völkerschau auf der STIGA 1897 ist zu denken. Außerdem liefert KOULOUNISATION den Kommentar zu der Deutschland geradezu quälenden Frage: Folgte der friedlichen Revolution die Kolonisation durch den Westen? Was verschwand in der Jahrmarktsbude?

       

Zum Programm

https://euro-scene.de/programm/

Credits

besuchte Vorstellung 8.11.2023; veröffentlicht 9.11.2023

Text: Moritz Jähnig, freier Theaterkritiker und Herausgeber, Leipzig

Fotos: Thomas Jean Henri

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